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Ahnherr Europas

Mit Karl dem Großen (748-814) betrat im 8. Jahrhundert ein Herrscher die politische Bühne, der schon zu Lebzeiten eine Legende war. Ihm gelang es, nach dem Untergang Roms wieder ein zusammenhängendes Reich im lateinischen Westen zu schaffen. Wie dies vonstatten ging, erzählt eindrucksvoll die Historikerin und Journalistin Karin Schneider-Färber. Sie geht auf Karls Vorfahren ein, schildert seinen Aufstieg zum ersten Kaiser des westlichen Mittelalters und beschreibt die Blütezeit seiner Macht bis hin zum Niedergang des von ihm geschaffenen Herrschaftsgebildes, das unter seinen Söhnen in mehrere Teile zerfiel.

Zunächst erfährt der Leser, wie die karolingischen Hausmeier das politische Koordinatensystem im Frankenreich des 7. und 8. Jahrhunderts sukzessive zu ihren Gunsten verschoben, um schließlich unter Pippin dem Jüngeren (714-768) das Erbe der Merowingerkönige anzutreten. Sodann geht es darum, wie das Frankenreich im 8. und 9. Jahrhundert unter den neuen Machthabern allmählich arrondierte, und wie sich deren bedeutendster Spross am Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom zum Kaiser krönen ließ.

Karl, so erfahren wir weiter, stieß als Herrscher zahlreiche Reformprojekte an und stellte die Verwaltung seines Reichs so auf eine neue Grundlage. Das war nötig, hatte doch die nachrömische Umbruchzeit der Völkerwanderung einen enormen Wissensverlust zur Folge gehabt. Um wieder an spätantike und frühchristliche Traditionen anzuknüpfen, holte der wissbegierige Frankenherrscher die klügsten Köpfe seiner Zeit an den Hof. Unter ihnen befanden sich sein engster Vertrauter Alkuin (735-804), der Theologe Hrabanus Maurus (780-856) und der Biograf Einhard (770-840), der mit seiner "Vita Karoli Magni" den Nachruhm des Kaisers sicherte.

Zur herrschaftlichen Durchdringung seines Reichs stützte sich Karl auf Erzbischöfe und Bischöfe, die in ihren Bezirken seine Weisungen (Kapitularien) ausführten. Zudem setzte er Grafen ein, die in ihren Herrschaftsbereichen als seine Stellvertreter über das Heer befehligten und den Vorsitz bei Gericht führten. Königsboten ("missi dominici"), jeweils ein Adliger und ein Bischof, bereisten jährlich bestimmte Grafschaften und Bistümer und kontrollierten die Amtsführung der lokalen Machthaber.

Um den Königshof zu versorgen, erließ Karl eine Landgüterverordnung, das "Capitulare de villis", in der er seine Verwalter detailliert unterwies, wie sie seinen Besitz zu pflegen hätten. Er ließ Maße und Gewichte normieren, schuf mit dem Silberdenar eine Einheitswährung, die Jahrhunderte überdauerte, und vereinheitlichte die religiösen Zeremonien und Riten. In Gestalt der Pfalzen ließ er monumentale Steinbauten errichten – alles andere als selbstverständlich in einer Welt der Hütten –, förderte die Wissenschaften und das Handwerk. Überdies etablierte er mit der karolingischen Minuskel ein neues Schriftbild mit klarer Linienführung, die das Schreiben erleichterte und noch heute üblichen Druckschriften wie der "Times" zugrunde liegt. Als Zentren der neuen Gelehrsamkeit etablierten sich die Klöster. Sie waren nicht mehr nur Orte des Gebets, sondern wurden zu Bildungsstätten mit Bibliotheken und Skriptorien, zu handwerklichen und landwirtschaftlichen Produktionsstätten sowie zu Herbergen für Reisende.

Doch Karl war nicht nur Kulturstifter. Er gestaltete auch den europäischen Kontinent um und zwang dabei – im Namen Gottes – ganze Völker unter sein Joch, etwa die Sachsen. Hier offenbaren sich die Schattenseiten dieser mittelalterlichen Lichtgestalt, sein hässliches Gesicht als grausamer Menschenschlächter, der "heidnische" Untertanen mit Waffengewalt zum christlichen Glauben bekehrte. Zudem stellte er die Beziehung zu Rom auf eine neue Grundlage und propagierte die Erneuerung des Römischen Reichs ("Renovatio imperii Romanorum"). Als deren im wahrsten Sinne krönender Abschluss ist sein Kaisertum zu verstehen.

Aus heutiger Perspektive lässt sich kaum nachvollziehen, wie schwer es damals war, über ein Reich zu gebieten, das sich von der Elbe bis zum spanischen Fluss Ebro und von den friesischen Inseln bis nach Mittelitalien erstreckte. Zu den Eigenheiten der karolingischen Herrschaftspraxis gehörte es, überall im Reich persönliche Präsenz zu zeigen. Dieses Phänomen der "ambulanten Herrschaftsausübung" erforderte ständiges Umherreisen. So begegnet uns in Karl ein Herrscher im Sattel, der permanent unterwegs war, von Pfalz zu Pfalz ritt und an diesen repräsentativen Orten seinen Regierungsgeschäften nachging.

Karls Imperium schuf einen zivilisatorischen Rahmen, in dem sich die späteren europäischen Nationen herausbilden konnten. Diese epochale Leistung würdigt das vorliegende Buch historisch fundiert und mit großem erzählerischem Schwung.

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