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Wenn Du denkst, Du denkst, dann denkst Du nur Du denkst

Was ist Bewusstsein? Wie kommt die Welt in unsere Köpfe, und wie nutzen wir diese Repräsentationen zum eigenen Handeln? Diese Fragen wirft Hans Lenk eingangs seines neuen Buches auf. Dabei versteht der Philosophieprofessor an der Universität Karlsruhe und Autor zahlreicher Publikationen zu unterschiedlichen philosophischen Problemen das menschliche Gehirn als maßgeblich dem Überleben dienendes Repräsentations- und Handlungsorgan. Zunächst widmet sich Lenk der materiellen Seite und stellt die Hirnstrukturen in einer kompakten und übersichtlich gehaltenen Einführung dar. Erfreulicherweise belebt er die Darstellung dabei durch aktuelle Forschungsergebnisse, und es gelingt ihm, komplizierte Sachverhalte auch für Laien ansprechend zu erläutern. Unter anderem hebt Lenk hier die Spezifität der jeweiligen Nervenbahn für das Sehen, Hören und Tasten hervor, die es trotz eines gleichartigen elektrischen Reizübertragungsmechanismus zwischen den Nervenzellen im Gehirn erlaubt, die entsprechenden Sinnesreize zu diskriminieren und diese in die jeweils spezifischen Verarbeitungszentren des Gehirns weiterzuleiten. Ebenso interessant ist der Zusammenschluss der in den unterschiedlichen Hirnarealen verarbeiteten Informationen. Hierbei erscheint es aus Sicht der modernen Hirnforschung plausibel, dass das Gehirn die zunächst lokale Verarbeitung spezieller Informationen über bestimmte zeitlich-dynamische Bindungsmechanismen integriert. Dazu nutzt es die Gleichartigkeit der elektrischen Reizverarbeitung und erzeugt einen gemeinsamen Schwingungszustand, der den jeweiligen Einzelaktivitäten der Nervenzellen gleichzeitig überlagert ist. Auf diese Weise setzt das Gehirn die spezifischen Informationen bestimmter Nervenzellen zu kohärenten Gesamtheiten zusammen. Hervorzuheben ist dabei, dass es im Gehirn kein oberstes Verarbeitungszentrum gibt, keinen Ort, an dem alle Informationen zuletzt zusammenlaufen. Daher resümiert Lenk, dass das grundlegende Verarbeitungsparadigma des Gehirns „demokratisch“ oder besser noch „partizipatorisch“ organisiert ist: „wie ein Massensozialsystem oder Bündniszusammenschluss mit föderativer Verfassung, in dem jeder weiß, was er zu tun hat, und alle gleichzeitig arbeiten, in dem es aber keinen obersten Herrscher gibt.“ Mit seiner durchgängig an den Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung orientierten Argumentation lässt der Autor keinen Zweifel aufkommen, dass er das menschliche Gehirn zuvorderst als Teil einer natürlichen Ordnung versteht. In diese ist das Gehirn aufgrund seiner funktional auf das Überleben zielenden Ausstattung jedoch nicht nur als passiver Reizempfänger eingebettet, sondern überdies als aktiv handelnder Gestalter. Die Repräsentation von Informationen bedeutet nicht einfach die Wiedergabe der durch die Sinne aufgenommenen Reize an einem dafür vorgesehenen Ort. Geistige Repräsentation ist insbesondere prozessuale Verarbeitung und erlernbare Veränderung durch vorgängige Strukturierung. So wird das Sehen aus neurowissenschaftlicher Perspektive nicht als quasifotografische Abbildung von Objekten verstanden, sondern als ein aktiver, das kognitive Abbild konstruierender Prozess. Das Gehirn setzt sich bereits strukturierend mit der Welt auseinander, bevor überhaupt ein bewusstes Erfassen im Geist erfolgt. Als Philosoph mit einem ausgeprägten Verständnis für die Bedeutung interdisziplinärer Diskussionen ist sich Lenk über die Konsequenzen der angeführten Ergebnisse auf die eigenen philosophischen Konzeptionen bewusst und weiß diese geschickt zu integrieren. So schlägt er vor, die Arbeitsweise des Gehirns im Sinne der Interpretation oder des Erfassens von Schemata zu verstehen. Danach erkennt und handelt das Gehirn auf der Grundlage erzeugter (konstruierter) oder bereits in seine Strukturierung imprägnierter Muster. Erkenntnistheorie ist dann Mustererkennung und menschliches Handeln vor allem ein Handeln nach aktivierten oder reaktivierten Schablonen. Gerade die Erkenntnis nach Mustern erlaubt dann das schnelle und häufig unbewusste Abrufen von Handlungsperspektiven und stellt damit einen leistungsstarken Überlebensmechanismus zur Verfügung. Lenks Erkenntnistheorie der Konstruktbildung und Musterinterpretation ist jedoch keine rein naturwissenschaftliche Lehre. Die Annahme der Existenz einer gehirnunabhängigen Realität etwa ist eine philosophische These. Erst eingebettet in die Realität vermag das Gehirn seine konstruktive Tätigkeit zu entfalten. Somit setzt Lenks Erkenntnistheorie einen gewissen Realismus voraus. Mit dieser Ansicht grenzt sich der Autor wohltuend von derzeit populären Positionen ab, die alles als Konstrukte des Gehirns interpretieren wollen und dabei entscheidende Vorbedingungen außer acht lassen. Spekulativ philosophisch bleiben darüber hinaus Lenks Ansichten über die Entstehung von Bewusstsein und das damit verbundene Gefühl freier Entscheidungswahl. Der Autor versteht Bewusstsein in erster Linie als Systemeigenschaft: als das Ergebnis einer kompositorischen Gesamttätigkeit der Hirnstrukturen. Interessant und kontrovers erscheint dabei die These, dass nur jene Muster oder Schemainterpretationen ins Bewusstsein treten, die vom Gehirn neu integriert werden. Bereits vorhandene Strukturen arbeiten unbewusst. Fazit: Lenks „Kleine Philosophie“ eröffnet einen profunden Einblick in die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns und stellt plausible Erklärungsperspektiven zur Diskussion, wie wir erkennen und handeln, und wie bewusste Geistestätigkeit zu Stande kommt. Das Buch bereichert die interdisziplinäre Diskussion, indem es naturwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Konzeptionen miteinander abstimmt und damit die Bedeutung beider für eine fortzuführende Auseinandersetzung betont.

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