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Zwischen die Zeilen geschaut. Ein Ratgeber zum Thema "Lese-Rechtschreibstörungen"

Lesen und Schreiben gehören zu den ganz großen kulturellen Errungenschaften der Menschheitsentwicklung. Aber erst seit etwa 200 Jahren gibt es in Deutschland eine allgemeine Schulpflicht mit dem Ziel, dass alle Bürger Lesen und Schreiben lernen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts weiß man allerdings auch, dass es Menschen gibt, die sich die Schriftsprache überhaupt nicht oder nur sehr unvollständig aneignen können. Die Erforschung dieses Phänomens hat zu verschiedenen und teils widersprüchlichen Ergebnissen geführt. In den letzten Jahren häufen sich zudem die Fälle von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen signifikant; die entsprechenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind schon jetzt fast unüberschaubar. In diese Situation hinein entlässt Reinhard Werth sein Buch „Legasthenie und andere Lesestörungen“. Es richtet sich an Laien und Betroffene, die selbst keine Kenntnisse von den Lese- und Schreibprozessen haben und insbesondere die komplexen Hirnfunktionen nicht kennen, die das Erlernen und Beherrschen einer buchstabenbasierten Schriftsprache überhaupt erst ermöglichen. Werth behandelt die Wahrnehmungsfunktionen des Sehens und die Rolle der Aufmerksamkeit sowie die Bedeutung des Gedächtnisses. Zu den Lesestörungen, die er in seine Ausführungen einbezieht, gehören neben Legasthenie unter anderem „Neglekt“ und „Hemianopsie“. Besonders eingehend behandelt Werth Störungen durch falsche Augenbewegungen – ein Phänomen, das in jüngster Zeit von der Forschung immer stärker beachtet wurde und zu dem es mittlerweile umfangreiche Untersuchungen gibt. Die Rolle des Hörens bei Lese- und Sprachstörungen wird ebenfalls aufgegriffen. Werth erklärt, wie eine schlechte Schreibleistung durchaus an eine schlechte Leseleistung gekoppelt sein kann und dass es deshalb sinnvoll erscheint, das Lesen zu verbessern, um darüber das Schreibenlernen zu erleichtern. Überhaupt ist es dem Autor gelungen, die Komplexität der Zusammenhänge deutlich zu machen und einfachen Ursache-Wirkungs-Schlüssen, die bei Legasthenie (wie auch bei anderen Teilleistungsstörungen) nicht angemessen sind, einen Riegel vorzuschieben. Besonders erfreulich: Immer wieder werden praktische Hinweise zu Erkennung spezifischer Leistungsdefizite gegeben. Bei den vorgestellten therapeutischen Maßnahmen handelt es sich vor allem um Trainingsmethoden. Die Tatsche, dass nicht nur motorische Leistungen, sondern auch sensorische Funktionen trainierbar sind, wird richtig gesehen. Ein Manko: Leider sind die heute tatsächlich zur Verfügung stehenden evaluierten diagnostischen Methoden bezüglich des dynamischen Sehens und der Blicksteuerung sowie der sprachfreien Hörunterscheidung nicht in das Buch eingegangen. Zum Schluss beschreibt Werth die neurobiologischen Grundlagen des Lesens. Dass er hier nur kursorisch verfahren kann, liegt in der Natur seines allgemein verständlichen Ansatzes. Alles in allem wird klar, dass eine Lesestörung ein neurobiologisch begründetes Problem darstellt, dem man mit gezieltem Training begegnen sollte, auch wenn noch nicht für alle bekannten Fälle Erfolg versprechende Programme entwickelt werden konnten. Mit diesem Buch liegt ein Ratgeber vor, der sich sowohl für Lehrer, Erzieher, Ärzte, Psychologen und Therapeuten als auch für interessierte Eltern und Laien als Lektüre eignet.
  • Quellen
Gehirn & Geist 01/2002

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