Mann - Frau, Frau - Mann
Existieren tatsächlich neuronale Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Parken Frauen wirklich deswegen angeblich schlechter ein, haben Schwierigkeiten, Karten zu lesen und sich räumlich gut zu orientieren? Lässt sich das sogar wissenschaftlich belegen oder sind das einfach chauvinistische Vorurteile? Das Buch "Mann, Frau, Gehirn – Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft", herausgegeben von Helmut Fink und Rainer Rosenzweig, geht diesen Fragen tatsächlich wissenschaftlich nach: Die Sammlung von Aufsätzen anlässlich des Symposiums "turmdersinne 2010" in Nürnberg widmet sich der Fragestellung tatsächlich oder vermeintlich vorhandene genetische, neuronale und psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern darzulegen.
Onur Güntürkün eröffnet den Reigen mit seinem Beitrag zu Sexualdimorphismen des Gehirns: Er stellt die Frage, ob sich das Gehirn zwischen Mann und Frau sowohl in seinen Strukturen als auch in seinen Funktionen voneinander unterscheidet. Dabei lenkt er sein Augenmerk vor allem auf drei besonders wichtige Hirnstrukturen: den Neokortex, die Amygdala sowie die zerebralen Asymmetrien zwischen den Geschlechtern. Der Leser erfährt, dass nach Auszählen von Hirnproben, der weibliche Neokortex durchschnittlich 19,3 und der männliche 22,8 Milliarden Nervenzellen besitzt. Der Unterschied beträgt 16 Prozent, wobei im Alterszeitraum von 20 bis 70 Jahren beide Geschlechter etwa ein Zehntel ihrer Neuronen verlieren – was letztendlich etwa 85 000 pro Tag ausmacht.
Wenn man nun anfängt, diese Zahlen mit der Körpergröße und dem Geschlecht in Korrelation zu stellen, stellt man fest, dass der Unterschied in der Neuronenzahl nicht durch das größere Körpergewicht erklärt werden kann, sondern unabhängig davon besteht. Betrachtet man nun die Amygdala, so lässt sich feststellen, dass das Volumen der Amygdala bei Männern (in Relation zum Gesamtvolumen des Gehirns) größer ist als bei Frauen. Welche Funktion hat dieser Mandelkern? Er reagiert auf Pheromone und hat eine bedeutende Rolle bei der geschlechtsspezifischen Gedächtnismodulation. Hier haben Untersuchungen gezeigt, dass Frauen durch die primäre Aktivierung der linksseitigen Amygdala eher dazu neigen, Details eines emotionalen Ereignisses zu behalten, wohingegen Männer durch ihre eher rechtsseitige Aktivierung essenzielle Hauptmerkmale des jeweiligen Ereignisses speichern. Innerhalb der kortikalen Asymmetrien zeigt sich, dass Männer und Frauen sich bei verbalen und räumlichen kognitiven Fähigkeiten unterscheiden, wobei Männer stärker lateralisiert sind als Frauen.
In weiteren Kapiteln geht es um "Sexy Gehirne", um Gerüche, die unser Denken beeinflussen, um Intersexualität, psychologische Unterschiede, Geschlechtsdifferenzen in den räumlichen Fähigkeiten, um die geisteswissenschaftliche Geschlechterforschung, die evolutionären Gründe für die Geschlechterdifferenz und um Mann und Frau als Männchen und Weibchen. Wichtige Erkenntnisse aus diesen tollen Beiträgen sind beispielsweise, dass die Geschlechterunterschiede in unserem Denken keine Diskussion über die Tatsache sein sollten, wie wir durch Natur oder Kultur geformt werden, sondern wie Natur und Kultur zusammenwirken, um unser Denken zu formen.
Interessant fand ich den Aspekt, dass Frauen bei Experimenten zu visuell-räumlichen Fähigkeiten, insbesondere bei mentalen Rotationen, schlechter abschneiden als Männer. Aber beim Wissenserwerb in einem Umgebungsraum waren Frauen fast genauso gut, in manchen Situationen sogar besser als Männer. Sehr gut gefiel mir auch der Aufsatz von Ferdinand Knauß, der sich mit der "Gender-Theorie" befasst. Er mahnt zu mehr Offenheit und Toleranz und einem Blick über den Tellerrand hinaus, wenn man sich mit dem Thema Mann und Frau auseinandersetzt. Denn auch geisteswissenschaftliche Geschlechterforschung erfordert einen Blick in die Biologie. Ohne sie könne man nicht von Geschlechterforschung sprechen.
Für alle, die schon immer etwas über den kleinen aber feinen Unterschied zwischen Mann und Frau aus einem etwas anderen Blickwinkel wissen wollten, ist dieses Buch zu empfehlen. All jene, die aber sowieso alles auf gewisse Klischees reduzieren, sollten von diesem Buch Abstand halten.
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