Helle Geister in dunklen Zeiten
Verfielen mit dem Untergang des Römischen Reichs auch Bildung und Wissenschaft, wie die gängige Vorstellung vom "dunklen Mittelalter" glauben lässt? Diese Frage stellt Ulrich Nonn an den Anfang seines Werks – und beantwortet sie auf rund 200 Seiten mit einem eindeutigen Nein. Der Mediävist bricht eine Lanze für das Wissen und Können postantiker Gelehrter und bietet dem Leser einen faszinierenden Einblick in die mittelalterlichen "artes liberales".
Sein Hauptaugenmerk richtet Nonn auf die Zeit vom 9. bis zum 16. Jahrhundert. Dabei stellt er immer wieder den Bezug zu den Bildungsidealen des römischen Altertums her und zeichnet beispielreich die Entwicklung der Freien Künste zu den sieben kanonischen Stufen nach – die letztlich "zur Weisheit führen" sollten. Die wichtigste bildungsgeschichtliche Zäsur ereignete sich allerdings nicht beim Übergang von der Antike zum Mittelalter, sondern am Ende des 11. Jahrhunderts. Eine regelrechte "révolution scolaire" brach los, als Gelehrte eine neue wissenschaftliche Methodik entwickelten, die als Vorreiterin der Logik und humanistischen Philosophie gelten darf.
"Entscheidend für den wissenschaftlichen Aufbruch war die Wiederentdeckung der Schriften des Aristoteles", so der Autor. Dies führte offenbar zu Spannungen in der christlich geprägten Scholastik der Dom- und Stiftsschulen: Zwar ging es den mittelalterlichen Gelehrten weiterhin darum, die "auctoritates", die kanonischen Texte, zu lesen und zu interpretieren. Doch erhoben sich zunehmend kritische Geister und wiesen auf Widersprüche hin. Die Folge: Die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie und ihren Prinzipien von Vernunft, Erfahrung und Natur gab den Anstoß, Glauben und Wissen methodisch zu unterscheiden.
Insbesondere mit der Entstehung der Universitäten im Hochmittelalter gewann diese Trennung an Bedeutung. Die "Hohen Schulen" setzten sich eine breite Ausbildung zum Ziel – das "Studium generale" im Sinn des Theologen Hugo von St. Victor (1097–1141): "Lerne alles, später wirst du sehen, dass nichts überflüssig ist. Beschränkte Wissenschaft ist nicht erfreulich." Gerade im Licht dessen gibt der Koblenzer Emeritus zu bedenken, ob "ein heutiger 'Master of Arts' den Ansprüchen eines mittelalterlichen 'Magister artium'" entsprochen hätte.
Über den Wissensdurst im Mittelalter hat Ulrich Nonn ein überaus lesenswertes Buch geschrieben. Lediglich einen Einblick in die Rolle jüdischer Gelehrter und deren Verhältnis zu christlichen Denkern mag der Leser ver- missen.
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