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Abrechnung mit dem Neoliberalismus

Die Anfänge des Neoliberalismus sieht der amerikanische Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski in den 1960er Jahren, als die Mathematik verstärkt Einzug in die Wirtschaftswissenschaften hielt und eine historische Sicht ökonomischer Entwicklung vernachlässigt wurde. Modelle und Methoden der Physik wurden hingegen nur unvollständig in die Wirtschaftswissenschaften integriert, was der Autor als Defizit ansieht, wie er in seinem neuen (englischsprachigen) Buch darlegt. Nach Meinung Mirowskis hat die Ökonomik und besonders die Makroökonomie versagt. Er beklagt, dass einflussreiche Ökonomen bis heute keine Verantwortung für die weltweite Banken- und Finanzkrise übernommen haben, die 2007 begann, und die Fehler stets bei anderen suchen.

Ein wesentlicher Kritikpunkt des Autors ist die angebliche Fähigkeit des Marktes, sich selbst zu regulieren und somit spontan der Ordnung zuzustreben – eine Grundannahme der Neoliberalen. Mirowski greift insbesondere den österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek (1899-1992) und den US-Ökonomen Milton Friedman (1912-2006) an, bedeutende Vordenker der neoliberalen Sicht. Ihnen zufolge ist eine (politische) Einflussnahme auf den Markt immer schädlich, da sie dessen Selbstordnung verhindere. Dahinter steckt die Annahme, dass die Masse immer klüger sei als das Individuum, was Mirowski verwirft. Die neoliberale Ordnung und der Glaube an den Markt, schreibt er, hätten mittlerweile den ganzen Westen erfasst. Wie andere Autoren sieht auch er den Ursprung dieser Entwicklung in der Mont Pelèrin Society, einem Zusammenschluss liberaler Intellektueller, der sich 1947 am Genfer See gründete und bis heute aktiv ist. Seine Ziele lauten unter anderem, Privateigentum und Wettbewerb zu schützen. Hayek und Friedman standen ihm einst als Präsidenten vor.

Besonders die Entwicklungen in Großbritannien und den USA, so Mirowski, förderten einen Neoliberalismus, der Deregulierung und immer weniger Einflussnahme des Staates propagiere und auch durchsetze. Politikberatende Organisationen in Gestalt der so genannten Think Tanks – etwa das American Enterprise Institut in den USA oder das Institut of Economic Affairs in Großbritannien – liefern die wissenschaftliche Expertise hierfür. Mehr Markt und weniger Staat waren und sind das Ziel. Die "Leistung des Einzelnen" wurde dabei zu einem Dogma erhoben. Nicht mehr die Gesellschaft stand im Fokus, sondern das Individuum, das als "human capital" an seinem Arbeitsertrag versus seinen Kosten für das Unternehmen gemessen wurde. Aus dieser Perspektive gesehen ist der Mensch ein Bündel von Investments, er ist Unternehmer und Konsument zugleich und nur sich selbst verantwortlich. Die Folgerung daraus lautet, Erfolg hänge nur am Einzelnen und gesellschaftliche Verhältnisse spielten keine Rolle. Armut, so das Credo der Neoliberalen, sei daher gleichzusetzen mit Faulheit oder Kriminalität.

Die Finanzmärkte in den USA wurden seit den 1980er Jahren immer wieder von Krisen erfasst, was Mirowski unter anderem darin begründet sieht, dass die Ideen des britischen Ökonomen und Mathematikers John Maynard Keynes (1883-1946) zunehmend aus dem Blick geraten. Keynes hielt Krisen der Märkte wegen des irrationalen Verhaltens der Marktteilnehmer für unvermeidlich. Mit dem Niedergang des Keynesianismus in den 1980er Jahren spielte das Krisendenken bei Ökonomen eine immer geringere Rolle – und zwar erstaunlicherweise trotz zahlreicher Krisen, wie der Autor schreibt. Ein Grund hierfür sei gewesen, dass die Ökonomen für dieses Denken die Theorie hätten verwerfen müssen, der Markt ordne und reguliere sich selbst. Ben Bernanke, US-Ökonom und Präsident der US-Notenbank, prophezeite noch 2004 eine Zeit der Stabilität und Sicherheit auf den Finanzmärkten – kurz vor Beginn der globalen Finanzkrise. Er stützte sich dabei auf die Theorie der "Rationalen Erwartungen" sowie auf Gleichgewichtsmodelle. Diese verorten Krisen letztlich beim Staat und führen sie auf zu viel Regulierung und zu hohe Steuern zurück, aber nicht bei Akteuren der Wirtschaft.

Mirowski legt mit seinem Buch eine umfangreiche Hintergrundstudie vor, die über die Entwicklung des Neoliberalismus handelt, aber auch über die Vetternwirtschaft zwischen Finanzmarkindustrie, einflussreichen Ökonomie-Professoren, der US-Notenbank und amerikanischen Politikern. Das Werk besticht durch seine Detailfülle. Dem Autor gelingt es, das Phänomen Neoliberalismus in seiner Komplexität zu erfassen, auch wenn nicht alle Leser einverstanden sein werden mit Mirowskis teils deutlicher Kritik, insbesondere an Hayek. Indem er die Netzwerke auf den Finanzmärkten schildert, ihre gegenseitige Unterstützung, ihren Einfluss auf politische Prozesse, wird deutlich, dass gerade jene die Märkte beeinflussen, die für ihre Freiheit eintreten.

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