Inflation der Diagnosen
Nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen fühlen sich die meisten von uns niedergeschlagen und antriebslos. Manche verlieren vielleicht sogar zwischenzeitlich das Interesse am Leben. Was als normaler Trauerprozess erscheinen mag, kann von Psychiatern in den USA schon nach kurzer Zeit als Depression eingestuft werden. Möglich macht das die im Mai erschienene fünfte Version des US-amerikanischen Diagnosemanuals DSM-5. Es enthält die aktuell gültige Einteilung psychiatrischer Krankheitsbilder. Nach den neuen Kriterien gilt eine mehr als zwei Wochen dauernde tiefe Trauer als Depression.
Gegen solche Entwicklungen schreibt der Psychiater Allen Frances an. Er war Vorsitzender der Kommission, die 1994 die letzte, vierte Version des Diagnosehandbuchs (DSM-IV) erarbeitet hatte. Das DSM-5 treibe nun auf die Spitze, was damals begonnen habe: die künstliche Erweiterung psychischer Diagnosen.
Diese Inflation habe viele Ursachen, so Frances. Eine liege darin, dass man die Diagnosehürden im Lauf der Zeit immer weiter gesenkt habe und psychische Störungen einführte, die durchaus noch in den Bereich des Tolerablen fielen. So würden die Grenzen zwischen gesund und psychisch krank immer weiter verschwimmen.
Endgültig explodiert sei die Zahl der Diagnosen, als die Pharmaindustrie den gewaltigen Markt der Psychopharmaka für sich entdeckte. Mit der in den USA erlaubten Direktwerbung wende sich die Industrie vor allem an besorgte Gesunde. Ihnen rede man alle möglichen Krankheiten ein, glaubt Frances, die in Wahrheit normale Alltagsprobleme darstellten.
Solch eine Modediagnose sei etwa die soziale Phobie, die sich in den USA zur dritthäufigsten psychischen Störung mauserte. Mit Selbstkritik spart Frances dabei nicht. Bei der Entwicklung des DSM-IV habe er die drohende Diagnoseflut unterschätzt, und auch er sei im Lauf seiner Karriere von der Pharmaindustrie finanziell unterstützt worden. Was allerdings seine Entscheidungen als Psychiater niemals beeinflusst habe!
Frances bezieht sich vorwiegend auf die Situation in den USA, und das Nachwort des Philosophen Geert Keil macht deutlich, dass diese nicht unbedingt die deutsche Seelenlage widerspiegelt. Hier zu Lande ist etwa Direktwerbung für Psychopharmaka – glücklicherweise – gesetzlich untersagt.
Trotz des nicht immer eingängigen Inhalts ist das Buch durchaus unterhaltsam. Einziger Wermutstropfen: Manchmal ist Frances in seinen Ausführungen doch sehr plakativ. Wenn er zum Beispiel im Plauderton von einer Cocktailparty berichtet, auf der er feststellte, dass nach DSM-5 er selbst gleich mehrere psychiatrische Störungen habe, darunter das als »Heißhungerstörung« bezeichnete Binge Eating, so denkt man sich: Ganz so einfach ist das mit den Krankheitsdiagnosen wohl doch nicht.
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