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Lärm ist immer der Lärm der anderen

In der Urzeit – behauptet ein 4000 Jahre alter sumerischer Mythos – wurde die schwere körperliche Arbeit einzig und allein von Göttern geleistet. Doch eines Tages begehrten sie gegen den Gott Ellil auf, der wiederum die über ihm stehenden Götter anrief. Schließlich erhielt die Muttergöttin den Auftrag, sterbliche Menschen zu erschaffen und ihnen die gesamte Knochenarbeit aufzubürden. Die Menschen vermehrten sich schnell, und immer mehr schwoll der Lärm an, den sie veranstalteten. Bald konnte Ellil ihren Krach nicht mehr ertragen, und er bestrafte sie, indem er Seuchen, Dürren und Hungersnöte hervorrief. Als er mit diesen Bestrafungsmaßnahmen nichts bewirkte, schickte er eine große Sintflut, um Rache zu nehmen.

Dieser Mythos dokumentiert nicht nur, dass hohe und extrem hohe Lärmpegel bereits in den ältesten Hochkulturen zum Alltag gehört haben. In den Augen der Journalistin Sieglinde Geisel kommt in ihm zudem eine grundlegende Wahrheit über das Phänomen Lärm zum Ausdruck: Die Herrschenden bringen zwar eine Vielfalt von Geräuschen und Tönen hervor. Doch als Lärm gilt gemeinhin nur, was von unten kommt, was die Beherrschten willentlich oder unwillentlich erzeugen.

Was ist Lärm? In der Natur – erklärt Sieglinde Geisel – geht es zwar mitunter ohrenbetäubend laut zu. Doch mit Lärm habe das absolut nichts zu tun. Nicht weniger falsch sei die Auffassung, dass es sich bei Lärm um etwas handeln würde, dass anhand objektiv messbarer physikalischer Eigenschaften identifiziert werden könnte. Tatsächlich – behauptet Geisel – ist Lärm etwas, das sich ausschließlich zwischen Menschen ereignet und das erst in dem Moment beginnt, wenn ein Bewusstsein ein Geräusch als Lärm klassifiziert und bewertet. "Ganz allgemein kann man sagen: Lärm ist Schall, der irgendjemanden stört, belastet, ängstigt, beunruhigt, ablenkt, aufregt oder nervös macht."

Die Evolution hat das menschliche Gehirn darauf programmiert, immer dann, wenn es ein Geräusch als Gefahrensignal interpretiert, den gesamten Körper augenblicklich in Alarmbereitschaft zu versetzen. Dass Menschen Lärm als psychisch und physisch belastend empfinden, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass ihr Gehirn auf ihn nach wie vor mit dem Abspulen derselben archaischen Programme reagiert. Geisel beharrt allerdings völlig zu Recht darauf, dass soziale Umstände und soziale Beziehungen in letzter Instanz darüber bestimmen, was überhaupt als Lärm wahrgenommen und wie Lärm eingeordnet wird. Entscheidend ist dabei immer, wo, wann, warum und von wem Geräusche verursacht werden und in welchem Verhältnis diejenigen, die ihnen ausgesetzt sind, zu denjenigen stehen, die ihre Entstehung zu verantworten haben.

Vereinfacht gesagt gibt es in jeder Gesellschaft drei Gruppen. Es gibt die Mächtigen, deren Geräusche nicht als Lärm erscheinen, weil sich in ihnen die herrschende gesellschaftliche Ordnung manifestiert. Dann gibt es diejenigen, die die Mächtigen mit der Lizenz zum Lärmen ausgestattet haben. Und schließlich gibt es die Machtlosen, von denen erwartet wird, sich unterwürfig zu verhalten und Ruhe zu geben. Doch sobald die Machtlosen wagen, sich lautstark bemerkbar zu machen, droht der Umsturz.

In diesem Zusammenhang merkt Geisel an, dass jeder Populismus darauf hinausläuft, dem Volk vorgeblich eine Lärmlizenz zu erteilen. Umgekehrt sind es oft genug bloß die Geräusche der niederen Stände, über die sich Anti-Lärm-Bewegungen empören.

Sieglinde Geisel befasst sich ausgiebig mit den tiefgreifenden Auswirkungen von Lärm auf Psyche und Körper, und sie zeigt, dass extremer Lärm bei denjenigen, die ihm ausgeliefert sind, zum vollständigen Zerfall ihres Selbst, bei denjenigen aber, die ihn selbst veranstalten, zu einer totalen Entgrenzung ihres Selbst führen kann. Geisel schreibt über Lärm als Folter- und Terrorinstrument und über die Kriege der Moderne als Lärminfernos. Die Autorin berichtet außerdem über die Sehnsucht nach vollkommener Stille und die fanatische Begeisterung der Futuristen für grellen Lärm jeder Art. Am Ende gelangt sie zu dem paradoxen Befund, dass der Lärm in den europäischen Metropolen im Verlauf der letzten Jahrzehnte eher abgenommen, die Lärmempfindlichkeit der Städter jedoch ständig zugenommen hat.

Biologen könnten ihr entgegenhalten, dass zumindest die Menschenaffen sehr genau wissen, dass die Erzeugung eines Heidenlärms ein probates strategisches Mittel ist, um Rivalen einzuschüchtern und zu vertreiben. Man könnte auch einwenden, dass man – wenn man ein anthropomorphistisches Verständnis von der Natur hat – kaum umhin kann, manche der von ihr produzierten Geräusche nicht als Lärm zu empfinden. Aber das sind Grenzfälle. Ein großer, elegant geschriebener Essay, der hellhörig macht.

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