Koloss auf tönernen Füßen?
Das gedruckte Buch weicht dem E-Book und der Brief der E-Mail; Wikipedia verdrängt das Hauslexikon und Social-Media-Kontakte nehmen den Platz von leibhaftigen Freunden ein. Willkommen in der Welt der Bits und Bytes. Mag die Bundeskanzlerin das Internet auch als Neuland bezeichnen, de facto verbringen viele Menschen einen Großteil ihres Lebens schon seit geraumer Zeit dort: Im World Wide Web.
Das Netz ist längst nicht mehr bloß Kommunikationsmedium, es wächst in das Rückgrat unserer Gesellschaft ein. Kraftwerke, Stromnetze, Wasserpumpen und Verkehrsampeln werden zunehmend darüber gesteuert. Etliche Arbeitnehmer arbeiten heute daheim – die Vernetzung macht’s möglich. Privatleute, Unternehmen und Behörden lagern einen wachsenden Teil ihrer Daten in die so genannte Cloud aus, in große Datenzentren, häufig betrieben von kommerziellen Dienstleistern.
Nach Ansicht des Wissenschaftsautors Thomas Grüter ist das eine Entwicklung, die ernstzunehmende Gefahren heraufbeschwört. In seinem Buch »Offline« weist er darauf hin, dass das Internet nur funktioniert, solange es sich auf eine gewaltige weltweite Infrastruktur stützen kann. Die darin verbaute Technik altere vergleichsweise schnell – Festplatten von Internetservern etwa hielten im Schnitt weniger als fünf Jahre. Mobilfunk-Basisstationen und Großrechenanlagen hätten eine durchschnittliche Lebensdauer von zwanzig Jahren, ebenso wie transatlantische Glasfaserkabel. Jahr für Jahr müsse ein Heer von Technikern Abermillionen Elektronikkomponenten austauschen und erneuern, um das Netz am Laufen zu halten.
Was, fragt Grüter, wenn aus irgendeinem Grund der Nachschub an Elektronikteilen für einige Jahre stockt? Die Fertigung konzentriere sich inzwischen auf bedenklich wenige Unternehmen und Orte. Festplatten würden weltweit noch von drei Herstellern produziert, komplexe Prozessoren bald nur noch von vier, Grafikchips im Wesentlichen noch von zwei. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, ließen diese Unternehmen an immer weniger Standorten (oft in Asien) und in immer größeren Fabriken fertigen – bei fortschreitender Monopolisierung des erforderlichen Know-Hows. Die weltweite Verteilung der Produkte setze eine zunehmend leistungsfähige Transportinfrastruktur voraus, was den Vertrieb mehr und mehr störanfällig mache.
Der Autor erläutert das an einem Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit. Im Jahr 2011 wurde Thailand von einer Überschwemmung heimgesucht. Fast alle internationalen Festplattenhersteller oder ihre Zulieferer betrieben im Überflutungsgebiet Fabriken, die von der Naturkatastrophe in Mitleidenschaft gezogen wurden. In der Folge brach die weltweite Versorgung mit Festplatten ein; die Liefermengen gingen um etwa dreißig Prozent zurück, entsprechend deutlich stiegen die Preise. Erst ein Jahr später, im Oktober 2012, hatte sich die Situation normalisiert.
Wenn schon eine einzige regionale Überschwemmung so etwas anrichtet, fragt Grüter, was passiert dann etwa im Falle eines überregionalen Kriegs, sei es zwischen Indien und Pakistan, sei es zwischen Japan und China? Was wäre, wenn die Handelsrouten unsicher werden, bedingt durch politische Verwerfungen infolge des Klimawandels? Oder wenn der Rohstoffnachschub für längere Zeit versiegt, etwa bei Metallen der Seltenen Erden? Bei stockender Versorgung mit Elektronikbauteilen, schreibt der Autor, würde das Internet schon nach kurzer Zeit zu kollabieren beginnen. Die drohenden Folgen: Daten- und Wissensverlust – Privatnutzer, Unternehmen und Behörden betreffend –, Stromausfälle, Versorgungsengpässe, Verkehrschaos, Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung. Wie das konkret ablaufen kann, macht der Autor an realen Beispielen deutlich.
Grüter gibt in seinem Werk wertvolle Anstöße zum Nachdenken. Sein Verdienst besteht darin, darauf hinzuweisen, dass die uns umgebende Welt eine hochgradig künstliche ist und ihr Funktionieren keineswegs selbstverständlich. Da kann man ihm auch die eine oder andere Polemik verzeihen – vorausgesetzt, man ist überhaupt bereit, sich mit dem Alarmismus auseinanderzusetzen, der in der Buchunterzeile anklingt. Fundierte technische Analysen liefert der Autor nicht, dafür aber interessante Betrachtungen zur Vergänglichkeit dokumentierten Wissens – mit eindrucksvollen Beispielen aus der Geschichte. Wer sich für die Mechanismen der Informationsgesellschaft interessiert und inhaltliche Zuspitzungen aushält, findet in diesem schmalen Band etliche Anregungen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben