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Geschichtsphilosoph im Mönchsgewand

Vom "dunklen Mittelalter" ist immer noch oft die Rede, als hätten die Menschen viele Jahrhunderte lang nur in Elend und Aberglauben verharrt. Dabei war gerade die Zeit, als die Staufer über halb Europa herrschten (1138-1268), eine Epoche voller Wandel und Dynamik. Im 12. und 13. Jahrhundert boomten Handel und Geldwirtschaft, überall wurden Städte gegründet und Burgen gebaut, Recht und Gesetz nahmen allmählich moderne Züge an und mit den Universitäten entstanden erstmals Bildungseinrichtungen, in denen Wissenschaft und Lehre auch außerhalb von Klostermauern betrieben wurde. Diese Zentren der Gelehrsamkeit brachten Geistesgrößen wie Anselm von Canterbury (1033-1109), Petrus Abaelardus (1079-1142) und Albertus Magnus (1200-1280) hervor, die der Säkularisierung des rationalen Denkens den Weg bereiteten.

In dieser Zeit des geistigen Aufbruchs wurde Otto, der spätere Historiograph und Bischof von Freising (1112-1158), in der Pfalz Klosterneuenburg, heute Niederösterreich, geboren. Als Enkel des Salierkaisers Heinrich IV. (1084-1106) und Onkel des Stauferkaisers Friedrich I. Barbarossa (1122-1190) mit mehreren gekrönten Häuptern verwandt, gehörte Otto zum politischen Establishment des 12. Jahrhunderts. Diese verwandtschaftliche Verbindung war Gnade und Verpflichtung zugleich. Zumal die Welt, in der er aufwuchs, eine Epoche von dramatischen Konflikten und Umbrüchen war, in der nicht nur Kaiser und Papst, sondern auch die Großen des Reichs untereinander über Kreuz lagen.

1138 – viel eher, als ihm lieb war – wurde Otto in dieses Haifischbecken hineingeworfen. In jenem Jahr berief ihn sein Halbbruder König Konrad III. (1093-1152) aus dem spirituellen Leben des Klosters Morimont heraus auf den vakanten Bischofsstuhl von Freising. Ein Amt, in dem sich Otto, der auch während seiner 20-jährigen Bischofsära stets die Mönchstracht trug, als fürsorglicher Oberhirte und pflichtbewusstes Mitglied der politischen Führungsschicht bewährte.

Joachim Ehlers, emeritierter Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Freien Universität Berlin, beschreibt Otto von Freising als eine vielseitig begabte Persönlichkeit, die als Theologe, Historiograph, Kirchenmann und Reichsfürst ihre Umwelt in den Blick nahm.

Schon in frühen Jahren für eine geistliche Laufbahn bestimmt, verbrachte der Knabe seine Jugend als Probst im Chorherrenstift Klosterneuburg. Hier lernte er erstmals die Geschichtsdeutung der Kirchenväter kennen, die für ihn bestimmend wurde. Er konnte sie während eines 6-jährigen Studiums in Paris, damals die intellektuelle Metropole des christlichen Abendlands, vertiefen. In Paris kam der Spross aus bestem Hause auch mit dem Gedankengut der Frühscholastik in Berührung, jener mittelalterlichen Denkschule, die Christenglauben und wissenschaftliche Ratio in Einklang zu bringen suchte.

Der darin überlieferten Theologie zufolge enthielt ein Traum des biblischen Propheten Daniel den göttlichen Fingerzeig, dass die Weltgeschichte vier einander ablösende Weltreiche umfasst, deren letztes das Römische Reich ist. Dessen Ende bedeutet demnach den Untergang des Weltstaates. Es folgt das Jüngste Gericht, bei dem die Sünder ewiger Verdammnis anheimfallen und die Gottgefälligen zu den Engeln in den ewigen Gottesstaat aufsteigen.

Dieses Gedankengut bestimmte Ottos erstes großes historiographisches Werk, die "Historia de duabus civitatibus", kurz "Weltchronik" genannt, in der er – die intellektuelle Avantgarde des Hochmittelalters rezipierend – die Zerwürfnisse seiner Zeit geschichtstheologisch deutete. So stellte der Investiturstreit für den Chronisten ein derart schweres Symptom der inneren Auflösung christlicher Einheit dar, dass er darin eines jener längst geweissagten Zeichen für den nahenden Weltuntergang sah.

Doch diese pessimistische Weltsicht scheint in Ottos zweitem Geschichtswerk, den "Gesta Frederici", wie verflogen. Jetzt wurde der Prophet des Weltuntergangs zum Herold der staufischen Mission, der den Friedensstifter Barbarossa vor dem Hintergrund des epochalen Zerwürfnisses zwischen Kaiser und Papst als rettenden Heilsbringer in umso glänzenderem Licht erstrahlen ließ. Der Weltuntergang war somit für ihn aufgehoben, weil mit seinem Oheim als Garant des kommenden Glücks eine neue Zeit anzubrechen schien.

Der Nachwelt ist Otto von Freising als Geschichtsphilosoph und Chronist in Erinnerung geblieben, der intellektuell auf der Höhe seiner Zeit stand und der das ihm zur Verfügung stehende Quellenmaterial kritisch zu verarbeiten und gedanklich zu durchdringen wusste. Hierin liegt die historische Geltung dieses "großen Weltendeuters", dem Joachim Ehlers eine ausgezeichnete Biographie gewidmet hat.

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