Katastrophen am Vesuv
Die Orte im Schatten des Vesuv sind seit jeher bedroht von Naturkatastrophen. Dennoch blühte in römischer Zeit eine einzigartige Kulturlandschaft auf, die durch den Vesuvausbruch im Jahr 79 n. Chr. schlagartig erlosch. Die Küstenstädte Pompeji und Herculaneum wurden damals komplett unter einer meterhohen Schicht aus Asche und Bimsstein begraben – und damit zugleich perfekt konserviert, so dass sie Auskunft über Menschen und Alltag, Lebensweise und Kultur geben.
In vier großen Kapiteln, jeweils bestehend aus Essays von diversen Fachleute, werden in dem umfangreichen Katalogband verschiedene Aspekte des Lebens in den Vesuvstädten vorgestellt. Der erste Teil befasst sich mit der Siedlungsgeschichte Kampaniens und den Vesuvkatastrophen. Denn nicht nur im Jahr 79 hatte der Vulkan Tod und Verderben gebracht, sondern zahlreiche Erdbeben, Überschwemmungen und pyroklastische Ströme prägten das Leben am Golf von Neapel bis in die Neuzeit. Dabei ist der Vesuv nicht der einzige Vulkan im Gebiet um Neapel; daneben gibt es die Phlegräischen Felder, Procida und Ischia. Und auch Pompeji und Herkulaneum sind lediglich die bekanntesten, nicht aber die einzigen betroffenen Städte. Aus der frühen Bronzezeit stammt beispielsweise eine Siedlung in Nola, das "Pompeji der Vorgeschichte", die frühgeschichtliche Flusssiedlung Longola di Poggiomarino oder die griechische Gründung "Pithekoussai" (Punta Chiarito) auf Ischia. Warum die Menschen immer wieder in die konstant von Naturkatastrophen bedrohten Gebiete zurückzukehrt sind, ist ein Aspekt, der ebenfalls beleuchtet wird.
In den "Impressionen aus den Vesuvstädten" geht es um Einzelaspekte wie Wandmalerei, um Handel, ums Gastmahl, um Sklaven und Freigelassene, um Militär und Gladiatoren. Politisch einflussreiche Männer wie Marcus Holconius Rufus oder die mächtige Priesterin Eumachia werden vorgestellt, eine der wenigen Frauen, die in der römischen Gesellschaft etwas zu sagen hatte und eine prächtig ausgestattetes Gebäude bewohnte. Für die Kochkunst und damit das Gastmahl unerlässlich war garum, eine fermentierte Fischsauce, die vor Ort hergestellt wurde. Amphorenfunde belegen, wie weitreichend die Handelsbeziehungen der Stadt waren – auch dank des Hafens – und dass Händler wie Aulus Umbricius Scaurus mit der Würzsauce zu beachtlichem Vermögen gelangten. Hilfreich für Reisende ist die "Gebrauchsanweisung" für die Vesuvstädte von Mitherausgeber Dickmann, denn nur allzu leicht erschlägt einen normalen Besucher ein "Trümmerfeld" wie es Pompeji ist.
Interessant ist der dritte Teil des Katalogs: "Das Leben in einer Pompejanischen Insula". Was ist "privat", was "öffentlich", wie sah ein römisches Wohnhaus aus, wie war es eingerichtet, wie wurde gewirtschaftet, wer lebte dort, welche Götter wurden verehrt? Am Beispiel der besonders gut dokumentierten Casa Del Menandro lernt man Raumaufteilung, Konzeption, Ausstattung und Möblierung kennen und sieht römisches Tafelgeschirr und Wandbilder von Gastmalern. Aus Pompeji stammt aber auch eine der größten Inschriftensammlungen: Diese Graffiti waren vielfach Namen, einfache Grüße oder Wahlwerbung. Für Spannung gesorgt ist dann im letzten Aufsatz, der sich mit einem Kriminalfall der Antike, mit Plünderern, beschäftigt.
Im letzten Kapitel wird schließlich der Bogen zwischen Mitteldeutschland und Kampanien geschlagen: Es geht um Dessau, Wörlitz und Solitude und die Wiederentdeckung von Herculaneum und Pompeji. Ab 1738 hatten unter dem Bourbonenkönig Karl II. die ersten Ausgrabungen stattgefunden. Winckelmann und der wallonische Gartenenthusiasten Fürst de Ligne waren ebenso beeindruckt wie eine Dessauer Studiengruppe, die 1765/66 unter Leitung von Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau eine Reise nach Italien unternommen hat. Der Ausstellungsort Halle ist deshalb gut gewählt, weil Sachsen-Anhalt zum Geburtsland der Antiken-Rezeption nördlich der Alpen wurde. So kam beispielsweise beim Bau des Wörlitzer Schlosses 1769 bis 1773 sowohl im Gartenreich als auch im Schloss selbst die Antikenbegeisterung zum Tragen und antike Motive aus den Vesuvstädten wurden rezipiert.
Der Anhang des gewichtigen Bandes enthält ein umfassendes Glossar zu Fachbegriffen, vor allem lateinischen, und ein Verzeichnis historischer Personen. Die Bebilderung des bunten Potpourris an Aufsätzen ist vielseitig und gelungen: Abgesehen von Farbfotos gibt es verschiedene geologische/geografische Karten, Geländemodelle, Ausgrabungsfotos, Grabungspläne, Stadtpläne, Stratigrafien und eindrucksvolle Bilder von Vulkanausbrüchen, dazu historische Gemälde, Stiche und Schwarzweißfotos.
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