Die neue Neuro-Popkultur
Die Erfindung der Waschmaschine war keineswegs von Beginn an eine Erfolgsgeschichte. Die praktischen Geräte setzten sich erst dann wirklich durch, als sie mittels Glastür den Blick in ihr Inneres freigaben. Der promovierte Soziologe Torsten Heinemann erläutert mit einem Augenzwinkern, dass es sich mit der Hirnforschung wohl ähnlich verhalte: Dank bunter Hirnscans haben wir heute den Eindruck, dem Gehirn bei der Arbeit zusehen zu können.
Der Siegeszug der Neurowissenschaften lasse sich tatsächlich weniger mit ihren mehr oder minder bahnbrechenden Erkenntnissen erklären. Vielmehr erwachse der Erfolg der Disziplin daraus, dass sie die Anforderungen der Gesellschaft an Wissenschaft erfülle und medial omnipräsent sei, so die Hauptthese des Buchs. Kaum eine renommierte Tageszeitung komme ohne Artikel über Hirnforscher aus, die unser Verhalten erklären. Die Neurowissenschaft werde zum popkulturellen Spektakel.
Genau daran übt Heinemann Kritik. In den Medien zähle eine gute Story oft mehr als wissenschaftliche Genauigkeit, und an dieser fehle es folglich vielen Veröffentlichungen. Erfreulicherweise bleibt der Autor an dieser Stelle nicht stehen, sondern beleuchtet, warum Forscher in Sachen Präzision zuweilen ein Auge zudrücken: Schuld sei das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Wissenschaft in unserer Gesellschaft. Denn ob Wissen etwas taugt, definiert sich heute zum großen Teil über seine mediale Verwertbarkeit. An Universitäten und Forschungseinrichtungen tobt der Kampf um Fördermittel, die über die Zukunft von Forschung entscheiden. Dabei punktet eine Schlagzeile wie "Der Wille ist nicht frei" natürlich mehr als die Aussage, dass sich vor jeder bewussten Handlung im Gehirn ein Bereitschaftspotenzial aufbaut.
Die Hirnforschung hat sich auf dem Wissenschaftsmarkt gut aufgestellt, resümiert der Soziologe. Zudem sei die Disziplin auf ein breites Themenfeld anwendbar und halte für alle Fragen des Alltags Antworten bereit. Denken, Fühlen und Handeln lassen sich schließlich immer irgendwie auf das Gehirn zurückführen, weshalb Hirnforscher oft meinten, sie seien die Einzigen, die naturwissenschaftlich gesicherte Aussagen über die Psyche und das soziale Miteinander treffen können. Doch Soziologen, Physiker oder Mediziner liefern ebenso wichtige Beiträge zu der Frage, wie frei wir in unseren Entscheidungen sind oder welche gesellschaftlichen Konsequenzen etwa die Möglichkeiten des Neuroenhancements haben.
Hintergründe und Abgründe
Bei aller Kritik vergisst Heinemann nicht die Errungenschaften der Hirnforschung, gerade bei der Behandlung neurologischer Erkrankungen wie Parkinson oder Depressionen. Er mahnt jedoch einen reflektierten Umgang mit ihren Erkenntnissen an. Ob die Hirnforschung zu Recht als neue Leitwissenschaft gehandelt werde oder nicht, liege auch in der Verantwortung der Medien.
Für die kritische Bewertung neurowissenschaftlicher Befunde bildet Heinemanns Analyse eine gute Grundlage. Seinen wissenschaftlichen Schreibstil lockert der Autor mit vielen Beispielen und mit Experteninterviews auf. Gleichwohl eignet sich das Werk eher für fachlich vorgebildete Leser, die tiefer in die Hintergründe – und Abgründe – der Hirnforschung blicken wollen.
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