Inszeniertes Grauen
In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen standen hohe Repräsentanten des Hitler-Regimes vor Gericht. Militärs niederer Ränge oder einfache Soldaten wurden nicht zur Verantwortung gezogen. Doch waren ihre Taten weniger grausam, nur weil sie Befehle ausführten? Wolfgang Richter und Stefan Ruzowitzky erzählen in der Dokumentation "Das radikal Böse" die Geschichte deutscher Soldaten, die in Osteuropa systematisch jüdische Zivilisten ermordeten. Die Filmemacher versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie aus normalen Männern Mörder wurden.
In nachgestellten Szenen aus dem Alltag des Einsatztrupps sehen wir junge Männer in Badeseen springen, Fußball spielen – und danach Juden aufstellen, um sie zu erschießen. In Briefen an ihre Angehörigen schilderten die Soldaten den Alltag des Mordens, berichteten vom Säubern der Waffen und von der Notwendigkeit, die Erschießungen vor dem Wintereinbruch hinter sich zu bringen, weil sich im gefrorenen Boden kaum Gräber ausheben lassen. Tagebucheinträge dokumentieren, dass die Männer ihre Frauen, Töchter und Söhne liebten – und gleichzeitig Kinder töteten mit der Begründung, dass diese ohne Eltern ohnehin nicht überleben könnten.
In ihren Aufzeichnungen wirken die jungen Täter oft unbeholfen, manchmal naiv. Diesen Eindruck verstärken die Filmemacher durch die Wahl der Schauspieler: Die Darsteller sind allesamt Amateure. Lediglich die Stimmen aus dem Off sind die von Profis wie Alexander Fehling oder Moritz Bleibtreu.
Abschied vom Menschsein
"Das radikal Böse" zeigt, dass die Wehrmachtssoldaten keine geborenen Monster waren. Vielmehr durchliefen sie eine allmähliche Wandlung – von Männern, die anfangs absichtlich danebenschossen und sich nach begangener Tat kollektiv übergaben, zu gefühlskalten Mördern, die ihre Opfer am Ende abzählten wie Fließbandarbeiter die Zahl produzierter Werkstücke. Diesen Prozess macht der Film ein Stück weit nachvollziehbar. Außerdem lässt er renommierte Holocaustforscher, Sozial- und Militärpsychologen sowie Juristen zu Wort kommen. Auch schildert er psychologische Versuche wie das Milgram- oder das Stanford-Gefängnis-Experiment , in denen es um die Frage ging, wie weit sich Personen "entmenschlichen" lassen.
Ruzowitzky und Richter wollen das Grauen verständlich machen, aber nicht entschuldigen. Mehrfach betonen sie, dass die Soldaten ihre Beteiligung am Zivilistenmord durchaus hätten verweigern können. Diese Option stand ihnen offen – sie hätten jedoch die Demütigungen ihrer Kameraden erdulden müssen und gewissermaßen nicht mehr dazugehört. Konformität und Gehorsam seien auch heute noch die wichtigsten Grundpfeiler des Militärs. Um Soldaten das Töten zu erleichtern, nehme man den Opfern ihre Menschlichkeit.
Vieles in dem Film ist nur schwer zu ertragen. Etwa die Bilder von Stiefeln, die über Leichen laufen, oder das Aufatmen der Soldaten, als Konzentrationslager eingerichtet werden, an die sie ihre grausame Aufgabe delegieren können. Die Szenen sind jedoch nie sensationsheischend, sondern entfalten ihre Wirkung im Gegenteil durch ihre Nüchternheit. Was könnte verstörender sein als die Erkenntnis, dass das "Böse" so "normal" sein kann?
Am Ende des Films bleibt das unangenehme Gefühl, dass uns die mordenden Soldaten in ihrem Empfinden gar nicht so fremd sind. Und dass Menschlichkeit manchmal ein Nein gegen die eigene Gruppe erfordert.
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