Der vererbte Schrecken
Sebastian Heinzel träumt vom Krieg. Er fährt in einem Panzer durch den Birkenwald, hält an und schießt. Stille. Woher kommen solche und ähnliche Bilder, die den Regisseur nachts verfolgen? Er ist 1979 geboren – und hat nie Krieg erlebt. Sein Leben mit Frau und zwei Kindern im Schwarzwald ist geordnet, geradezu idyllisch. Und doch scheint es etwas zu geben, das ihn unbewusst quält und schlecht schlafen lässt.
Um herauszufinden, was hinter den Kriegsträumen steckt, begibt sich Sebastian Heinzel auf die Suche nach Spuren seines Großvaters väterlicherseits im Zweiten Weltkrieg. Sind es dessen Erlebnisse als Soldat, die dem Enkel so lebhaft erscheinen? Welche Schuld lastete auf ihm?
Reise an die Kriegsschauplätze von damals
Der Regisseur nimmt die Zuschauer in dem Dokumentarfilm mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Gemeinsam mit seinem Vater versucht er, dem inzwischen verstorbenen Großvater näherzukommen und dessen Gedanken und Gefühle zu ergründen. Denn über dessen Erfahrungen als junger Mann im Krieg wurde in der Familie bisher kaum gesprochen, jede interessierte Nachfrage im Keim erstickt.
In einem Militärarchiv erfährt Sebastian Heinzel, dass der Großvater an der Ostfront stationiert war – und fährt anschließend nach Weißrussland, um selbst die Orte zu besuchen, an denen dieser gewesen sein könnte. Der Regisseur hat das Land bereits mehrfach für Dreharbeiten besucht, ohne zu wissen, dass sein Großvater ebenfalls eine Verbindung zu Weißrussland hatte. Nun fragt er sich: Kann es Zufall sein, dass es ihn immer wieder nach Osteuropa zog? Oder war es das Vermächtnis des Großvaters, das ihn unbewusst antrieb?
Eine sichere Antwort auf solche Fragen kann der Film nicht liefern. Doch der Regisseur versucht eine Annäherung, indem er erklärt, dass extreme Stresserfahrungen einer Generation tatsächlich nicht nur das Leben der Kinder, sondern auch das der Enkel indirekt beeinflussen. Recht früh auf seiner Spurensuche trifft Sebastian Heinzel dafür die Neuroepigenetikerin Isabelle Mansuy von der ETH Zürich, die ihm die biologischen Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe erläutert. Ebenso verdeutlicht der Besuch eines Seminars des US-amerikanischen Traumatherapeuten Peter Levine dem Filmemacher und seinen Zuschauern, wie stark schreckliche Erfahrungen eine Person prägen und wie sich das Grauen in denjenigen zeigen kann, die ihr nachfolgen. Am eindrücklichsten aber wirken die Begegnungen mit den Menschen in Weißrussland. In den Gesprächen des Regisseurs mit der dortigen Großvater- und Enkelgeneration wird klar, wie unterschiedlich der individuelle Umgang mit Kriegserlebnissen und der potenziellen Schuld der Soldaten sein kann.
Symptome der Kriegsenkel
Sebastian Heinzel lässt den Zuschauer in dem Film immer wieder tief in seine Seele blicken. Er zeigt sich verletzlich, von Albträumen und Ängsten gequält, zerrissen zwischen der Liebe zum Großvater und dem Verdacht, dieser könnte im Zweiten Weltkrieg Gräueltaten begangen haben. Sechs Jahre hat er an dem Projekt gearbeitet, eigene Szenen gedreht, Familienfotos zusammengestellt und seine Träume für den Zuschauer illustrieren und animieren lassen. Entstanden ist eine Dokumentation, die individuelle Erfahrungen vor einen wissenschaftlichen Hintergrund stellt. Die persönliche Geschichte des Regisseurs steht dabei stellvertretend für alle Kriegsenkel, die sich ihren Großeltern verbunden und doch fremd fühlen. Und für alle Familien, in denen kaum über die Erlebnisse aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gesprochen wird, in denen ein Teil der eigenen Geschichte im Dunkeln liegt und niemand weiß, wie stark diese verschütteten Erfahrungen immer noch nachwirken.
Seine Spurensuche scheint für den Regisseur zumindest teilweise heilsam gewesen zu sein: Die Frage nach der Schuld des Großvaters verliert im Lauf des Films an Bedeutung; die Beziehung zum Vater dagegen wird durch die Reise und die gemeinsame Beschäftigung mit der Vergangenheit gestärkt. Hin und wieder träume er noch heute vom Krieg, berichtet Sebastian Heinzel, allerdings seltener und anders als früher. Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte und seinen tief verwurzelten Ängsten dauert an – das wird in dem Buch deutlich, das zum Film erschienen ist. »Die Vergangenheit wirkt in uns nach. Je bewusster ich mir darüber werde, desto klarer kann ich die Gegenwart erleben«, sagt Sebastian Heinzel am Ende seines Films. Ein Satz, den die Zuschauer zum Anlass nehmen können, um zu hinterfragen, inwiefern auch in ihnen die seelische Pein der Vorfahren fortbestehen könnte.
Der Film
Sebastian Heinzel
Der Krieg in mir
Welche Spuren hat die Kriegsgeneration in uns hinterlassen?
Wie prägen sie uns bis heute?
Dokumentarfilm
Heinzelfilm und Mira Film, 2019,
83 Minuten
Als DVD erhältlich mit 90 Minuten Bonusmaterial € 19,40, Vimeo on Demand € 7,90
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.