Vom Schrecklichen erzählen
"Für die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens gibt es keine Worte" twitterte ein Politiker nach seinem Besuch in Auschwitz. Immer wieder fällt das Reden über Ungerechtigkeit und Leid so schwer, dass wir sie schlicht als "unsagbar" bezeichnen. Aber sind sie das? Gehört es zwangsläufig zu Gewalt und Entrechtung, dass sie die Betroffenen verstummen lassen? Nein, meint die Journalistin Carolin Emcke. Über die Abgründe menschlicher Grausamkeit zu berichten, sei nicht nur möglich, sondern notwendig, argumentiert sie in dieser Essaysammlung.
Seit 14 Jahren reist Emcke als Reporterin in Kriegs- und Krisengebiete, hört den Leidtragenden zu und versucht selbst, das Erlebte in Worte zu fassen. Sie erzählt von den den Flüchtlingslagern Palästinas und den Zerstörungen nach dem Erdbeben auf Haiti, berichtet über Kriegsverbrechen im Balkankonflikt und über Folterkammern im Irak. Beharrlich erinnert sie an das Leid in zahlreichen Krisen- und Schwellenländern, aber auch an Grausamkeiten inmitten unserer Gesellschaft, etwa die Abschiebung von politisch verfolgten Asylsuchenden. Sie analysiert, wie Mitleidsgefühle in Unrechtssystemen ausgeschaltet werden und was Menschen wie den amerikanischen Gefängniswärter "Chip" zu Folterknechten machte. Einfühlsam stellt sie Opfer vor, denen es unmöglich war, über das Erlebte zu sprechen – etwa die "Zeugin 50", der die Worte über ihre Vergewaltigung jahrelang "einfach nicht aus dem Mund kommen konnten".
Emcke wirft die Frage auf, was das Erfahren von Grenzsituationen eigentlich zerstört: die Befähigung, sich mitzuteilen, oder deren Voraussetzung, nämlich das Vertrauen in andere. Manchmal, schreibt die Autorin, lässt sich der "Riss durch die Welt", den die Opfer spüren, auch wieder schließen. Sie berichtet von Traumatisierten, die im Gespräch über das Erlebte aus ihrer Lähmung erwachten und wieder zu sich selbst fanden.
Das Buch lässt erahnen, wie schwer es ist, Folter oder sexuelle Gewalt in Worte zu fassen, die nicht zu kurz greifen. Emcke schildert die Angst erzählerischen Versagens, die Furcht, den Schrecken nicht angemessen beschreiben zu können. Und dennoch plädiert sie dafür, sich mit den Opfergeschichten auseinanderzusetzen, entweder zuhörend oder selbst erzählend – nicht nur um der Betroffenen willen, sondern für eine Gesellschaft, in der es sich für alle zu leben lohnt.
Besonders geistreich und von großer sprachlicher Schönheit sind Emckes Reflexionen über Heimat und Reisen – wenngleich sie, ebenso wie ihre deutliche Kritik an "liberalem Rassismus" und Islamfeindlichkeit, thematisch ein wenig aus der Reihe fallen. Insgesamt ist der Autorin ein scharfsinniges und eindrucksvolles Plädoyer für die Kraft des Erzählens gelungen.
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