Quantenornithologie
"Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt."
So lautet der Prolog von Juli Zehs Roman "Schilf", und mehr möchte ich eigentlich nicht von der Handlung verraten, denn schließlich handelt es sich bei dem neuen Werk der Autorin um eine Kriminalgeschichte. Und eine solche verträgt kein vorzeitiges Ausplaudern der Lösung. Doch Juli Zeh behandelt mehr als nur einen schnöden Mord: Ebenso geht es in ihrem Buch um Quantenmechanik, das Wesen der Zeit und um Vögel aller Art. Wer Fan spannender Thriller ist, wird dabei vermutlich nicht auf seine Kosten kommen und zu gängigerer Krimikost greifen.
Für eine Umsetzung als Fernseh-Tatort wäre "Schilf" sicherlich zu vertrackt. Denn aus dem Streit zwischen den beiden befreundeten Physikern Sebastian und Oskar über die Viel-Welten-Theorie und Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik entwickelt sich in "Schilf" nicht nur eine Geschichte um eine Entführung und einen Mord, sondern auch eine äußerst zugespitzte Auseinandersetzung um zwei Lebensentwürfe. Oskar und Sebastian bilden dabei ein Gespann wie aus einem Hesse-Roman, ganz ähnlich wie das Freundespaar David und Paul in Dietmar Daths "Dirac" (http://www.wissenschaft-online.de/artikel/859211).
Spätestens wenn Kommissar Schilf, das erklärte "alter ego" der Autorin, die Bühne der Handlung betritt, verwandelt sich die Geschichte in eine Art intellektuelles Duell. Dabei erscheinen mir die Protagonisten des Romans nicht so sehr als Identifikationsfiguren aus Fleisch und Blut, sondern eher als Figuren in einem vertrackten Schachspiel und als "essayistische Sprachrohre" der Autorin, die sich im Übrigen auch nicht für Kalauer zu schade ist: "Dreisam. Wie Einsamkeit zu dritt." (S. 9). Vom Namen "Dabbeling" auf das Orwellsche "doublethink" zu kommen, wie es der Freundin des Kommissars gelingt (S. 330), verursacht allerdings fast schon Zahnschmerzen.
Als jemand, der die nagenden Grundlagenfragen der Quantenmechanik im Rahmen der eigenen Diplomarbeit erlitten hat (die Fragezeichen verschwinden leider nicht im Physikstudium, sie werden nur größer), erscheint mir vieles, was populärwissenschaftlich über die so genannte "Viel-Welten-Theorie" von Hugh Everett geschrieben wird, eher als Literatur denn als handfeste Physik. Everett kreierte im Rahmen seiner Promotion eigentlich nur einen konsistenten Formalismus, der den Kollaps der Wellenfunktion beim Messprozess eliminieren sollte. Sein primäres Ziel war es nicht, auf quantenmechanischen Wege Doppelgänger und Parallelwelten zu erschaffen. Interessant ist es, wie John Archibald Wheeler in seiner Autobiografie über die verwegene Theorie seines Doktoranden Everett urteilt: "Does it offer any new insights? Does it predict outcomes of experiments that differ from outcomes predicted in conventional quantum theory? The answer to the first question is emphatically yes. The second is emphatically no."
Da finde ich es erfrischend, dass Juli Zeh – von Hause aus übrigens Juristin – die Everett'sche Theorie gleich literarisch ummünzt. Ihr Buch zeigt sicher nicht, wie sich die Quantenmechanik auf das Leben anwenden lässt, aber es verschafft eine anregende "physikalische Perspektive" auf die Literatur und das Leben: Lässt sich ein Roman als Versuchsanordnung ansehen, die mögliche Parallelwelten entwirft und unter die Lupe nimmt? Beeinflussen nicht gerade "zwischenmenschliche Verschränkungen" viele unserer Entscheidungen? Und was bitte schön machen die vielen Vögel um uns herum? Zu diesen und anderen Fragen gibt es viel im, pardon in "Schilf" zu entdecken.
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