Der Rand des Wahnsinns
Kommunikation wissenschaftlicher Sachverhalte ist schwierig. Umso mehr fallen Mitmenschen auf, denen es gelingt, die oft vertrackten Zusammenhänge auch für Laien nachvollziehbar und spannend darzustellen. Harald Lesch ist jemand, der es neben seiner wissenschaftlichen Arbeit als Astronom an der Universität München wie kaum ein anderer schafft, auch größere Zuhörermengen in den Bann zu schlagen.
Lesch setzt ein an der Absturzkante des gesicherten Wissens, am "Rand des Wahnsinns" (in seinen eigenen Worten) oder auch an den "Grenzen der physikalischen Erkenntnis" (so der marktgängiger formulierte Titel der DVD) – und fühlt sich dort am wohlsten. Denn da verlässt er bekanntes Terrain und begibt sich in das unwegsame Gelände großer – zumeist ungelöster – Fragen und spekulativer, ungeprüfter oder unüberprüfbarer neuer Theorien.
Harald Lesch spricht uns in zahlreichen Fernsehauftritten, im Radio und auf unzähligen DVDs an: direkt, scheinbar alltäglich und umgänglich. Und als Angesprochener lässt man sich die unglaublichen und oft jede Vorstellung sprengenden Ideen der modernen Physik und Kosmologie gerne gefallen, sogar seine wohlplatzierten Flapsigkeiten, die bei einem schlechteren Präsentator nur nerven würden. Wie er in Jeans und T-Shirt vor einer Schultafel steht, im lockeren Alltagston die schwierigsten Konzepte umreißt und – anachronistischer geht es gar nicht – mit Kreide einige Begriffe aufschreibt, das verführt auch solche, die bei Mathematik, Physik oder Astronomie eher an ihre schulischen Albträume erinnert werden.
Auf der DVD "Die Grenzen der physikalischen Erkenntnis" berichtet Lesch launig über die Grundlagen des physikalischen Weltbilds, also Quantenphysik, spezielle sowie allgemeine Relativitätstheorie – ein vergnüglicher Parcours durch schwieriges Gelände. Das gilt auch für die zahlreichen weiteren Videos von Lesch. Und bei allem Vergnügen sind es Vorlesungen von großem Nährwert für interessierte Laien, jeden Schüler oder Studenten, sei es die DVD über kosmische Dimensionen ("Universum und Quanten") oder die über Gravitationswellen ("Kepler und die Folgen", oben nicht aufgeführt), bei der Lesch seine Darstellung gemeinsam mit den Astrophysikern Hanns Ruderund Karsten Danzmann in eine Tanztheatervorführung einbettet.
Es ist kein Wunder, dass Lesch als öffentliche Figur auch der Versuchung erliegt, buchstäblich über Gott und die Welt zu parlieren, so über Goethes Naturphilosophie ("Die Ganze Natur") und über Philosophie allgemein ("Kant 3.0") – auf der letztgenannten DVD im Gespräch mit dem Philosophen Wilhelm Vossenkuhl. Da geht es naturgemäß um die berühmten letzten Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Oder zuletzt im Gespräch mit dem Hirnforscher Manfred Spitzer und dem Kabarettisten "Gunkl" ganz persönlich über Religion und Naturwissenschaft. Solches Crossover geht oft schief – aber nicht bei Harald Lesch. Ich kann jedem, der sich gerade für die Beziehung von Religion und Wissenschaft interessiert, diese Dokumente nur empfehlen.
Wer gut sprechen kann, ist nicht notwendig auch ein guter Buchautor. Aber zusammen mit dem Astronomen Jörn Müller gelingt es Lesch in den "Sternstunden des Universums", den lockeren Ton und die Anschaulichkeit seiner Vorlesungen in ein Buch zu übertragen. Auch hier blickt er über den Tellerrand der Naturwissenschaft hinaus und stellt – nach einem Rundumschlag von Kernenergie, Astronomie, Kosmologie bis zur Stringtheorie – die Grundsatzfragen: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Gibt es einen letzten Sinn? Gibt es Gott? In seinem Radiogespräch über Religion und Wissenschaft stellt Lesch fest: "Es ist der Zweifel, der uns alle verbindet." Daher sollten aus seiner Sicht alle den fundamentalistischen Atheisten dankbar sein, weil diese es seien, die am heftigsten über Gott nachgedacht hätten.
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