Direkt zum Inhalt

Über die Alltauglichkeit des Menschen

Langzeitastronauten erkennt man daran, dass sie versuchen, Kaffeetassen in der Luft zu parken und sich dann wundern, wenn sie runterfallen und zu Bruch gehen. Die Gewohnheit der Schwerelosigkeit musste sich Thomas Reiter gleich zweimal wieder austreiben. Zuerst besuchte er im Rahmen der Mission "Euromir 95" die russischen Raumstation Mir und später von Juli bis Ende Dezember 2006 die Internationale Raumstation ISS. Zwar geht Thomas Reiter nicht mit einer spektakulären Erstleistung in die Annalen der Raumfahrtgeschichte ein, doch mit insgesamt 350 Tagen im All ist er der Topastronaut der europäischen Weltraumagentur ESA.

Die Wissenschaftsjournalistin Hildegard Werth hat beide Missionen des ESA-Astronauten begleitet. Sie folgte Thomas Reiter ins legendäre russische Sternenstädtchen Swjosdny Gorodok bei Moskau, verfolgte seinen Start vom Weltraumbahnhof Baikonur zur Mir und seine "sportliche" Landung in der Landekapsel des Sojus-Raumschiff. Mit seinem zweiten Flug ins All wiederholte sich das Spiel, diesmal auf der anderen Seite des ehemals Eisernen Vorhangs. Nach dem Training in Houston, Texas, ging es nach Florida zum Start mit dem Space Shuttle Discovery zur Internationalen Raumstation.

Diese kurze Inhaltsangabe zeigt, was das Buch von Hildegard Werth interessant macht: Der in Frankfurt geborene Astronaut Thomas Reiter ist Teil der jüngeren Raumfahrtgeschichte und hat auf beiden ehemals konkurrierenden Seiten aktiv mitgewirkt. Als Mitarbeiter einer multinationalen europäischen Organisation, die eng mit russischen und amerikanischen Kollegen zusammenarbeitet, wird Thomas Reiter 350 Kilometer über die Erdoberfläche geschossen, wo keine Grenzen mehr sichtbar sind. Als Astronaut sieht er sich als Weltbürger – eine Sichtweise, die in dem Buch immer wieder betont wird.

Was für ein Mensch ist dieser Thomas Reiter eigentlich? In Neu-Isenburg aufgewachsen, von der ersten Mondlandung von der Raumfahrt infiziert und durch seinen segelfliegenden Vater schon früh in die Lüfte gehoben, baut der jugendliche Thomas Reiter eigene Raketen, studiert Luft- und Raumfahrttechnik und wird Tornado-Pilot bei der Bundeswehr. Auch wenn man das Berufsziel Astronaut nicht planen kann, wirkt Thomas Reiters Werdegang im Nachhinein doch sehr zielgerichtet. Die Autorin charakterisiert ihn kurz: "Thomas Reiter ist ein sachlicher und zurückhaltender Mensch, und wenn er über seine Erlebnisse im Weltraum berichtet, vermeidet er, große Worte zu machen."

Eine echte Biographie über einen so sachlichen, zurückhaltenden Musterastronauten zu schreiben ist kaum möglich. Es mangelt an Reibungspunkten, Dramen und seltsamen Anwandlungen, wie sie beispielsweise in den Lebensgeschichten der Apollo-Astronauten vorkommen. Auch sein aktueller Job als ESA-Direktor für "Human Spaceflight and Operations" in Darmstadt ist kein Stoff, aus dem spannende Bestseller gestrickt werden. So ist Hildegard Werths Buch doch in erster Linie ein Raumfahrtbuch, in dem der Leser Thomas Reiter über die Schulter schaut und neben vielen technischen Details auch unterhaltsame Informationshäppchen über das Leben im All serviert bekommt.

Ziemlich persönlich wird es dann aber doch, wenn Thomas Reiter offen über die körperliche Belastung spricht, die insbesondere der Wechsel von Schwerelosigkeit und Erdendasein hervorruft. Der Astronaut ist hier Versuchskaninchen. Er testet die Weltraumtauglichkeit des Menschen und obwohl Thomas Reiter zwei Mal an die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit stößt, würde er sofort ein drittes Mal fliegen.

In die Zeit seines Aufenthalts auf der ISS fällt auch der Besuch der ersten Weltraumtouristin Anousheh Ansari. Für zwanzig Millionen Dollar hatte sich die aus dem Iran stammende US-Amerikanerin ein russisches Flugticket gekauft. Thomas Reiter drückt sich gewählt diplomatisch über den Besuch aus. Man hat den Eindruck, dass ihm als Profiastronaut mit jahrelangem hartem Training die Anwesenheit von Touristen auf der Station nicht behagt, auch wenn er sich grundsätzlich positiv zum Weltraumtourismus äußert.

Anousheh Ansari spricht im Buch von Hildegard Werth hingegen große Worte über die Astronauten und Kosmonauten, die ihr auf ihrem Weltraumtripp begegneten: "Jeden, den ich im Sternenstädtchen und hier oben traf, kann man einen Supermenschen nennen. Obwohl sie sechs Monate und manchmal länger in beengten Verhältnissen leben, kommen sie gut miteinander aus und werden Freunde fürs Leben. Ich denke wirklich, dass wir Raumfahrer für die Staatsführung nehmen sollten. Das sind große Führungspersönlichkeiten mit einer einzigartigen Perspektive der Welt! Denn wir sind alle miteinander verbunden, wenn man auf dem einzigen bewohnbaren Planeten im Sonnensystem lebt."

Ich jedenfalls könnte mir Thomas Reiter als Bundespräsidenten sehr gut vorstellen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.