Philosophische Gespräche unter Toten
Es ist das Jahr 1908. Am 30. Juni wüten gewaltige Explosionen und gleißende Blitze in der Nähe des sibirischen Flusses Tunguska und verwüsten ein riesiges Waldgebiet. Es soll so hell gewesen sein, dass man sogar in London um Mitternacht Zeitung lesen konnte. Dieses Ereignis regt immer wieder die Fantasie des Menschen an und liefert ausreichend Stoff für etliche Romane und Filme. Was damals passiert ist, weiß heute aber niemand so genau. Die NASA sagt, es sei ein Asteroid auf die Erde eingeschlagen. Einige Hinweise sprechen dafür, andere allerdings dagegen, zum Beispiel das Fehlen entsprechender Spuren.
Gedanken darüber machen sich aber nicht nur hiesige Wissenschaftler, sondern auch Gelehrte aus dem Totenreich – zumindest in dem neuen Buch von Michael Hampe "Tunguska oder Das Ende der Natur": Vier tote Männer – ein Biologe, ein Physiker, ein Philosoph und ein Mathematiker – treiben auf einem Schiff über das Meer. Im dichten Nebel verwickeln sie sich in ein Gespräch über das Tunguska-Ereignis und versuchen, mit den bekannten Naturgesetzen das Rätsel der Explosionen zu lösen. Das endet in einer Grundsatzdiskussion darüber, was Natur überhaupt sei.
Während für den Physiker Tscherenkov die Natur nichts weiter als Materie und Gesetzmäßigkeit ist und er lediglich eine mathematische Wirklichkeit unter der illusionären Oberfläche der Welt sieht, bleibt für Blackfoot – Mathematiker und Philosoph – die Natur ein Mysterium. Er schließt nicht aus, dass es möglicherweise eine im Göttlichen begründete Wahrheit gibt. Für den Biologen Portmann ist die Natur Tätigkeit, Produktivität und ständige Hervorbringung von Neuem und auch "Ausdruck selbständiger Innerlichkeiten von mehr oder weniger großer Individualisierung" und nicht nur eine "Ressource des Wirtschaftens". So hält es auch Feierabent, der Philosoph, und spricht sich gegen eine Naturwissenschaft aus, die auf eine Technisierung der Wirklichkeit reduziert ist.
Dem Kenner fällt schnell auf: Hinter den fiktiven Gesprächen stecken reale Personen. Tscherenkov steht für die Physiker Günter Hasinger und Steven Weinberg, Bordmann für den Biologen Adolf Portmann und Blackfoot stellvertretend für den Mathematiker und Philosophen North Whitehead. Und hinter Feierabent steckt niemand anderes als der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend. Wer das nicht sofort erkennt, dem verrät der Autor im Anhang, wer sich hinter wem verbirgt.
Auf das höfliche fiktive Totengespräch zwischen den Wissenschaftlern folgt ein naturphilosophischer Essay, in dem klar wird: Der an der ETH Zürich lehrende Philosoph Michael Hampe selbst nimmt nicht die Rolle des neutralen Schiedsrichters ein, sondern seine Sympathien liegen eindeutig bei Paul Feyerabend alias Feierabent. Der Autor stellt heraus, dass die Natur keine Natur hat und daher auch nicht so leicht von der Kultur zu trennen ist. Außerdem warnt er vor der Illusion, Wissenschaft und Technik würden irgendwann sämtliche Probleme aus der Welt schaffen und das Leben glücklich machen.
Fazit: Wer sich für Naturphilosophie interessiert, findet in "Tunguska oder das Ende der Natur" einen literarischen Leckerbissen, in dem es um die Konturen des Naturbegriffs geht. Hampes Buch ist vor allem eine Einladung an den Leser, sich den Gedanken Feyerabends zu nähern. Und da der Leser weder einschüchternde Fachtermini noch langatmige philosophische Ausführungen zu befürchten hat, ist das Buch auch für den interessierten Laien auf jeden Fall eine lohnende und spannende Lektüre.
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