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Dschungelbuch mit beschränkter Perspektive

Es gibt sie noch, die Kannibalen im 21. Jahrhundert! Mit diesem Satz eröffnet die Philosophin Karen Gloy den Bericht über ihren Besuch bei den Kombai, einem Stamm im Dschungel Westpapuas, dessen Mitglieder zum größten Teil noch nie Kontakt zu Weißen hatten. Gloy, eine Schülerin des Physikers und Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker, nimmt die lange Reise auf sich, um "für ihre philosophischen Reflexionen einen unvoreingenommenen Blick auf die eigenen Bedingungen und die eigene Kultur zu erhalten".

Dementsprechend begibt sie sich zunächst in eine rein beobachtende und beschreibende Position. Sie erzählt von komplizierten Visaprozeduren, der langen Anreise und dem beschwerlichen, mehrtägigen Trekking durch den Dschungel, das sie bis an ihre körperlichen Grenzen fordert. Immerhin ist sie fast 70 Jahre alt und schon seit 2007 von der Universität Luzern emeritiert. Als die Truppe aus weißen Wissenschaftlern und eingeborenen Trägern endlich die abgelegene Dschungelsiedlung mit ihren Baumhäusern erreicht,ist sie dort alles andere als willkommen: Obwohl durch Vertreter verwandter Stämme angekündigt, werden die "weißen Geister" zunächst mit Pfeilen bedroht. Man fürchtet sich vor ihnen.

Nach einigen Tagen legt sich jedoch die Angst, und allmählich kommen Europäer und Waldbewohner in Kontakt. Gloy und ihre Begleiter erhalten die Gelegenheit, an der Sagoernte teilzunehmen, und feiern das Sagoraupenfest mit. Sie erleben, wie die Kombai mit einfachsten Werkzeugen wie Steinäxten ihre Arbeit verrichten, und begleiten sie beim Fischfang und bei der Jagd. Und schließlich erfahren sie bei Gesprächen am Feuer, dass unter bestimmten Bedingungen – etwa wenn ein Stammesmitglied die Mitarbeit dauerhaft verweigert oder eine Person im Ruf steht, andere zu verzaubern – Menschen nicht nur getötet, sondern auch gegessen werden.

Ein echtes Highlight der Lektüre sind die Interviews mit Klanchefs. Sie geben nicht nur einen tiefen Einblick in das Stammesleben der Kombai, sondern vermitteln auch einen sehr authentischen Eindruck davon, wie schwierig es sein muss, mit Vertretern eines so radikal anderen Werte- und Normensystems zu kommunizieren.

Schade ist nur, dass es der Autorin nicht gelingt, die Distanz der reinen Beobachterin durchzuhalten. Etwa nach der Hälfte des Buchs lässt sie sich dazu hinreißen, das Beobachtete auch erklären zu wollen. Und während persönliche Eindrücke ihren Reisebericht lebendig machen, wirken ihre Ausführungen zum Thema Zauberei wertend und damit deplatziert. So vergleicht sie das Rachesystem der Kombai mit dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" aus dem Alten Testament, um dann tatsächlich zu behaupten, dass sich ein solches Verhalten erst durch die Nächstenliebe des Neuen Testaments und daher durch die Missionierung der Papuas durchbrechen lasse. Welch unreflektierte Allgemeinplätze!

Leider bleibt es nicht bei diesem einen Ausrutscher. Obwohl Gloy immer wieder betont, sich nicht über die Kombai erheben zu wollen, gerät ihr Text mehr und mehr zu einer Erzählung vom tumben Eingeborenen, der faulem Aberglauben aufsitzt und seine Emotionen nicht im Griff hat, sondern ständig zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt schwankt, um dann vor lauter Panik in aggressive Verhaltensmuster zu verfallen. Und dabei kann er seine Angst nicht einmal als solche benennen, sondern beschreibt vielmehr, »dass das Herz die Kehle zuschnüre oder dass der Raum keine Luft zum Atmen lasse«. Das muss man nicht als ein Defizit verstehen! Nicht wenige Psychologen würden die Kombai zu einer derart körperlichen Wahrnehmung ihrer Gefühle beglückwünschen.

Vielleicht wollte die Autorin ihren eingangs angekündigten unvoreingenommenen Blick ja tatsächlich nur auf die eigene Kultur richten. Aber man legt das Buch schließlich mit eher gemischten Gefühlen aus der Hand. Schade eigentlich, wo es doch so viel versprechend begonnen hat.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2011

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