Up, up and away ... Mit Einsteins Hirn quer durch die USA
Princeton, 18. April 1955. Der Dienst habende Pathologe des Universitätshospitals, Dr. Thomas Harvey, öffnet mit einer Kreissäge den Schädel eines wenige Stunden zuvor verstorbenen älteren Mannes und entnimmt das Gehirn. Eine Handlung, die heute wahrscheinlich niemanden mehr interessieren würde, wäre der Tote nicht Albert Einstein gewesen — das „Gehirn des Jahrhunderts“, wie der SPIEGEL kurz vor der vermeintlichen Jahrtausendwende 1999/2000 titelte. Bis heute ist unklar, ob der Kultphysiker seiner „Entleerung“ zuvor eingewilligt hatte oder ob zumindest sein Nachlassverwalter oder die Erben den Eingriff billigten. In jedem Fall blieb Harvey bis in unsere Gegenwart im Besitz seiner Beute — auch noch, als er seinen Princetoner Posten verlor und sich im Mittleren Westen der USA phasenweise sogar als Tagelöhner durchschlagen musste. Die ursprünglich anvisierte Forschungsarbeit zum prominentesten aller Gehirne wurde derweil immer wieder aufgeschoben. — Nicht nur auf den ersten Blick eine irgendwie gescheiterte Karriere. Vor einigen Jahren nun stieß Michael Paterniti auf die Spur von Einsteins Gehirn. Nachdem es über 40 Jahre mit seinem neuen — diesmal zur Abwechslung völlig unspektakulären — Besitzer von Ort zu Ort und Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle getingelt war, überredete der junge Journalist den mittlerweile schon über 90-jährigen „Halbmediziner“ Harvey, seine Reliquie doch endlich Einsteins Erben zu überlassen. Und so tuckern die beiden tagelang in einem alten Skylark von New England nach Kalifornien, wo Evelyn Einstein, des Genies Enkelin, heute lebt — das Gehirn aus Sicherheitsgründen vom formaldehydgefüllten Bonbonglas in eine reisefreundlichere Tupperschüssel umgetopft. Was bitteschön ist Stoff für eine gute Story, wenn nicht dieser? Und tatsächlich ist Paterniti mit seinem romanhaft daherkommenden Sachbuch-Erlebnisbericht ein Coup gelungen! Seine Erinnerungen an die Zeit mit Harvey und Einsteins Gehirn sind eine Lektüre, die ihresgleichen nicht findet: formal eine Reisenovelle, lose verzahnt mit einer fragmentarischen Einstein-Biografie und einer einfühlsamen Porträtskizze seines posthumen „Besitzers“. Dazu zur Abrundung einige kritische Gedanken zum Thema Geniekult und Wissenschaftsgläubigkeit in unserer Zeit — eine durchweg unterhaltsame, teils tiefsinnige Lektüre und ein Vergnügen, wie es leider nur selten im Buche steht!
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