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Authentisches Mitgefühl

Stellen Sie sich vor, Sie sind bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Bei Kerzenschein und einem guten Glas Wein genießen Sie ein köstliches Mahl. Das Rezept müssen Sie unbedingt haben! Gern verrät es Ihnen der Gastgeber: Das wunderbar zarte Fleisch, erklärt er stolz, stamme vom Golden Retriever! Hundefleisch?! Höchstwahrscheinlich würde Ihnen der Appetit in diesem Moment schlagartig vergehen.

Mit diesem Gedankenexperiment wirft Melanie Joy im ersten Kapitel ihres Buchs die zentrale Frage auf: Warum essen wir hier zu Lande bestimmte Tiere, etwa Schweine, Rinder und Hühner, andere aber tunlichst nicht – wie zum Beispiel eben Hunde? Schritt für Schritt analysiert die Professorin für Psychologie und Soziologie der University of Massachusetts in Boston auf den folgenden Seiten die Psychologie des Fleischkonsums, den so genannten Karnismus.

Warum, so fragt die Autorin weiter, verspeisen wir genüsslich Schweine, obwohl sie doch mindestens genauso intelligent und sensibel sind wie Hunde? Weshalb sprechen wir von Fleisch statt von "totem Tier"? Und wie lebt all das Schlachtvieh eigentlich, bevor es appetitlich verpackt in den Regale der Supermärkte landet?

Joy zufolge sollen und wollen wir die "Realität des Fleischs" nicht sehen: Demnach setzt die Nahrungsmittelindustrie alles daran, das trostlose Dahinvegetieren und das massenhafte Töten von Nutztieren vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Und wir Konsumenten machen es ihr einfach, indem wir die Augen davor schließen. Auf diese Weise entstehe eine "Bewusstseinslücke", die uns von der lebenden Kreatur separiere – und damit auch von unserem Mitgefühl mit ihr.

Die überzeugte Veganerin Joy konfrontiert den Leser mit der Wirklichkeit: Sie beschreibt ausführlich den Alltag in der industriellen Fleischproduktion und erklärt die kulturell bedingten Mechanismen des Karnismus. Laut der Psychologin werden wir von Kindesbeinen an darauf konditioniert, keine Emotionen für unsere "Steaklieferanten" zu empfinden (siehe auch das Interview ab S. 58 in diesem Heft).

Wer mit dem Gedanken spielt, sich fleischlos zu ernähren, findet in diesem Buch gute Argumente dafür. Der Suggestivkraft der Autorin kann man sich im Lauf der Lektüre kaum entziehen, zumal Joy ihren Standpunkt klar und deutlich begründet: Viele von uns betrachten Fleischkonsum als normal, natürlich oder notwendig und glauben, keine echte Alternative zu haben.

Am Ende erkennt der Leser, dass er nicht dazu verdammt ist, Fleisch zu essen. Vielmehr lohnt es sich, die eigenen Ernährungsgewohnheiten zu hinterfragen. So mancher dürfte dann erkennen, dass sein Mitleid für andere Wesen ein authentisches Gefühl ist, das er zulassen sollte.

  • Quellen
Gehirn und Geist 6/2013

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