Das naturalistische Missverständnis
In der Flut der Bücher über die moderne Hirnforschung wünsche ich diesem besonders aufmerksame Leser. Der Autor, von Beruf Philosoph an der Humboldt-Universität in Berlin, stellt eine gute alte Frage. Wer wir sind, interessiert uns alle – und die Antwort wird im Licht der jeweils aktuellen Naturforschung immer neu ausfallen müssen.
Das geht nicht ohne Konflikte ab. Dass das überkommene Menschenbild durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse in Frage gestellt wird, begrüßt nicht jeder freudig als Gewinn. Den Verlust von althergebrachten Überzeugungen erleben viele als Bedrohung. Gerade die Hirnforschung wird oft als Angriff auf die menschliche Kernsubstanz interpretiert – als wollte man uns einreden, unser Ich und unser Wille, erlebte Farben und Schmerzen wären "nichts als" Epiphänomene, das heißt "bloße" Begleiterscheinungen hirnphysiologischer Prozesse. Als wären wir "nur" neuronale Automaten, in deren Kopfkino sinnlose Filme flackern.
Den vermeintlichen Verlust, der in abschätzigen Worten wie "nur", "bloß" und "nichts als" zum Ausdruck kommt, nennt Pauen ein "naturalistisches Missverständnis". Dieser Ausdruck ist leider selbst etwas missverständlich; gemeint ist nicht etwa ein Missverständnis, sondern der verbreitete Vorwurf, der Naturalismus – ein Kürzel für die natürliche und mit der Zeit naturwissenschaftliche Erklärung der Welt – würde das Menschenbild immerfort nur reduzieren, degradieren, beschädigen, nicht vielmehr bereichern und erweitern.
Dieser Mythos hat, wie Pauen zeigt, in der Geistesgeschichte eine feste Tradition. So gelten das kopernikanische Weltbild, Darwins Abstammungslehre und Freuds Entdeckung des Unbewussten als drei typische "Kränkungen" des Menschenbilds, weil sie nacheinander unseren zentralen Ort im Kosmos, unsere Besonderheit als Gottes Geschöpfe und unsere psychologische Autonomie abschafften.
Zumindest für den ersten Fall kann Pauen auf ein echtes Missverständnis verweisen: Ganz im Gegensatz zur vermeintlichen Kränkung erhöhte das heliozentrische System den Menschen, indem es ihn vom irdischen Bodensatz in die Sphäre der Himmelskörper erhob, und rief eben damit den Widerstand der Kirche wach.
Weniger überzeugen mich Pauens Versuche, den geistesgeschichtlich nachweisbaren hartnäckigen Widerstand gegen naturalistische Erklärungen generell als bloßen Mythos kleinzureden. Das Erstarken des Kreationismus in den USA und der auch in Europa hohe Prozentsatz von Gegnern der Evolutionslehre sprechen eher gegen Pauens optimistische Einschätzung, das so genannte naturalistische Missverständnis werde sich mit der Zeit ganz von selbst erledigen.
Doch ein Missverständnis ist es allemal, im Naturalismus den Widersacher all dessen zu sehen, was Menschen gut und teuer ist. Wie Pauen verdeutlicht, entwertet die Hirnforschung keineswegs unsere subjektiven Erlebnisse, indem sie deren neuronale Grundlagen ergründet. Wir werden auch in Zukunft weiter "ich" sagen, uns als selbstbewusste Person erleben, zwischen Handlungsalternativen wählen und Verantwortung für unsere Taten tragen. Wir werden aber immer besser verstehen, wie all das zu Stande kommt.
Um einen kopernikanischen Vergleich zu bemühen: Menschen sagen seit Jahrtausenden "Gleich geht die Sonne auf" und "Bald kommt der Frühling", doch wir wissen seit ein paar Jahrhunderten, dass wir Sonnenaufgang und Jahreszeiten erleben, weil sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht, nicht die Sonne um die Erde. Im alltäglichen Leben ist die geozentrische Sprechweise dennoch völlig adäquat, während die astronomisch korrekte Formulierung überhaupt nichts zu der Frage beitragen würde, ob es gleich hell wird oder ob man sich lieber warm anziehen soll. Auch nehmen weder die Schönheit der Morgenröte noch die Freude am Frühling durch unser Wissen um die Gestalt des Planetensystems den geringsten Schaden.
Genauso wenig leidet unser Selbstgefühl, wenn wir die Natur des Geistes besser erkennen. Und für alltägliche Entscheidungen wie für deren strafrechtliche Zurechenbarkeit wird es auch in Zukunft kaum eine Rolle spielen, dass ihnen komplexe neuronale Prozesse zu Grunde liegen.
Um mit Pauen zu schließen: "In jedem Fall sind die Risiken, die von der Erkenntnis der Natur des Geistes ausgehen, vergleichsweise gering gegenüber dem Gewinn: Ein verbessertes Verständnis unserer wichtigsten Fähigkeiten und ihrer sozialen, kulturellen und natürlichen Bedingungen dürfte vor allem den Respekt vor diesen Fähigkeiten und dem Menschen als ihrem Träger noch erhöhen – auch dieses Verständnis selbst wäre schließlich eine Leistung des Menschen."
Das geht nicht ohne Konflikte ab. Dass das überkommene Menschenbild durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse in Frage gestellt wird, begrüßt nicht jeder freudig als Gewinn. Den Verlust von althergebrachten Überzeugungen erleben viele als Bedrohung. Gerade die Hirnforschung wird oft als Angriff auf die menschliche Kernsubstanz interpretiert – als wollte man uns einreden, unser Ich und unser Wille, erlebte Farben und Schmerzen wären "nichts als" Epiphänomene, das heißt "bloße" Begleiterscheinungen hirnphysiologischer Prozesse. Als wären wir "nur" neuronale Automaten, in deren Kopfkino sinnlose Filme flackern.
Den vermeintlichen Verlust, der in abschätzigen Worten wie "nur", "bloß" und "nichts als" zum Ausdruck kommt, nennt Pauen ein "naturalistisches Missverständnis". Dieser Ausdruck ist leider selbst etwas missverständlich; gemeint ist nicht etwa ein Missverständnis, sondern der verbreitete Vorwurf, der Naturalismus – ein Kürzel für die natürliche und mit der Zeit naturwissenschaftliche Erklärung der Welt – würde das Menschenbild immerfort nur reduzieren, degradieren, beschädigen, nicht vielmehr bereichern und erweitern.
Dieser Mythos hat, wie Pauen zeigt, in der Geistesgeschichte eine feste Tradition. So gelten das kopernikanische Weltbild, Darwins Abstammungslehre und Freuds Entdeckung des Unbewussten als drei typische "Kränkungen" des Menschenbilds, weil sie nacheinander unseren zentralen Ort im Kosmos, unsere Besonderheit als Gottes Geschöpfe und unsere psychologische Autonomie abschafften.
Zumindest für den ersten Fall kann Pauen auf ein echtes Missverständnis verweisen: Ganz im Gegensatz zur vermeintlichen Kränkung erhöhte das heliozentrische System den Menschen, indem es ihn vom irdischen Bodensatz in die Sphäre der Himmelskörper erhob, und rief eben damit den Widerstand der Kirche wach.
Weniger überzeugen mich Pauens Versuche, den geistesgeschichtlich nachweisbaren hartnäckigen Widerstand gegen naturalistische Erklärungen generell als bloßen Mythos kleinzureden. Das Erstarken des Kreationismus in den USA und der auch in Europa hohe Prozentsatz von Gegnern der Evolutionslehre sprechen eher gegen Pauens optimistische Einschätzung, das so genannte naturalistische Missverständnis werde sich mit der Zeit ganz von selbst erledigen.
Doch ein Missverständnis ist es allemal, im Naturalismus den Widersacher all dessen zu sehen, was Menschen gut und teuer ist. Wie Pauen verdeutlicht, entwertet die Hirnforschung keineswegs unsere subjektiven Erlebnisse, indem sie deren neuronale Grundlagen ergründet. Wir werden auch in Zukunft weiter "ich" sagen, uns als selbstbewusste Person erleben, zwischen Handlungsalternativen wählen und Verantwortung für unsere Taten tragen. Wir werden aber immer besser verstehen, wie all das zu Stande kommt.
Um einen kopernikanischen Vergleich zu bemühen: Menschen sagen seit Jahrtausenden "Gleich geht die Sonne auf" und "Bald kommt der Frühling", doch wir wissen seit ein paar Jahrhunderten, dass wir Sonnenaufgang und Jahreszeiten erleben, weil sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht, nicht die Sonne um die Erde. Im alltäglichen Leben ist die geozentrische Sprechweise dennoch völlig adäquat, während die astronomisch korrekte Formulierung überhaupt nichts zu der Frage beitragen würde, ob es gleich hell wird oder ob man sich lieber warm anziehen soll. Auch nehmen weder die Schönheit der Morgenröte noch die Freude am Frühling durch unser Wissen um die Gestalt des Planetensystems den geringsten Schaden.
Genauso wenig leidet unser Selbstgefühl, wenn wir die Natur des Geistes besser erkennen. Und für alltägliche Entscheidungen wie für deren strafrechtliche Zurechenbarkeit wird es auch in Zukunft kaum eine Rolle spielen, dass ihnen komplexe neuronale Prozesse zu Grunde liegen.
Um mit Pauen zu schließen: "In jedem Fall sind die Risiken, die von der Erkenntnis der Natur des Geistes ausgehen, vergleichsweise gering gegenüber dem Gewinn: Ein verbessertes Verständnis unserer wichtigsten Fähigkeiten und ihrer sozialen, kulturellen und natürlichen Bedingungen dürfte vor allem den Respekt vor diesen Fähigkeiten und dem Menschen als ihrem Träger noch erhöhen – auch dieses Verständnis selbst wäre schließlich eine Leistung des Menschen."
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