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„Ich weiß, dass ich nichts weiß! - Oder doch?“

Was wissen wir wirklich über die Welt? Wie viel hat ein "Naturgesetz" mit einem juristischen "Gesetz" gemein? Was bedeutet es, "etwas zu wissen"? Was ist eine wissenschaftliche Theorie, und welchen Stellenwert hat sie im Erkenntnisprozess? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Erkenntnistheorie – meiner Meinung nach eine der tragenden Säulen aller modernen Wissenschaft, insbesondere der auf das Verstehenden naturgesetzlicher Prinzipien zielenden Naturwissenschaften.

So sollte man eigentlich erwarten, dass jeder Student und jede Studentin einen soliden Unterbau in Wissenschafts- beziehungsweise Erkenntnistheorie haben sollte, um abschätzen zu können, welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen Theorien, Modelle und experimentell gewonnene Ergebnisse haben. Umso mehr verwundert es, dass in keinem Fach und an keiner (mir bekannten) deutschen Universität Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie auf dem verbindlichen Lehrplan steht. Falls solche Veranstaltungen abgehalten werden, geschieht dies meist im philosophischen Seminar und oft genug in einer Art und Weise, die dem (Natur)-Wissenschaftler unzugänglich ist. Natürlich kann man auch ein guter Wissenschaftler werden, indem man eine gute akademische Schule durchläuft und die Arbeitstechniken seines Faches inklusive ihrer Grenzen erlernt und die "wissenschaftliche Methode" sozusagen "mit der Muttermilch" der Alma Mater einsaugt.

Dennoch ist es im höchsten Maße nützlich – und ein intellektuelles Abenteuer ersten Ranges dazu – sich mit dem theoretischen Unterbau der Erkenntnis und der (nicht selbstverständlichen!) Erkenntnisfähigkeit des Menschen und der genausowenig selbstverständlichen Verstehbarkeit der Welt auseinanderzusetzen. Gerhard Vollmer liefert dazu in seinem brillanten Werk die geistige Nahrung in Form eines intellektuellen 5-Gänge-Menüs.

Dreh- und Angelpunkt seines Parforcerittes durch die Erkenntnistheorie ist die maßgeblich von ihm selbst mitentwickelte und mitgestaltete "Evolutionäre Erkenntnistheorie", deren zentraler Punkt die biologische Herkunft des menschlichen Erkenntnisapparates ist. Was dem Naturwissenschaftler geradezu banal anmuten mag, wird in den Kreisen der Philosophie erstaunlicherweise – und für den Naturwissenschaftler nur schwer nachvollziehbar – geflissentlich und fast gern ignoriert. Komplett ignoriert, sollte man korrekterweise sagen. Dabei hat, wie Vollmer ausführlich, nachdrücklich und überzeugend ausführt, die stammesgeschichtliche Herkunft unseres Erkenntnisapparates, der primär gar nicht als solcher konzipiert war und sein konnte, profunde Konsequenzen für das Wesen des Erkennens und der Erkennbarkeit der Welt.

Das großartige Buch, das gleichsam als ein schon zu Lebzeiten verfasstes Vermächtnis gelten kann, kommt in zwei Bänden daher, dessen erster sich der "Natur der Erkenntnis" und dessen Folgeband sich der "Erkenntnis der Natur" widmen. Band 1 ist eine Streitschrift im besten Sinne des Wortes für jene "Evolutionäre Erkenntnistheorie", die als eine der größten Errungenschaften der Philosphie des 20. Jahrhunderts gelten darf. Mehr als ein bloßer Advokat in eigener Sache stellt sich Vollmer ohne Deckung auch den Kritikern dieser Theorie und hebelt sie wie ein geübter Turnierritter behände aus dem Sattel. In diesem ersten Band spürt der Autor – der Physik wie Philosphie studiert hat und somit fähig ist, über beide Tellerränder hinauszublicken – so elementaren wie wichtigen Fragen nach wie: Gibt es eine objektive Erkenntnis? Gibt es überhaupt eine objektive Realität? Welche Rolle und Bedeutung kommt der Mathematik bei der Beschreibung der physikalischen Realität zu? In welcher Beziehungen stehen Anschauung und Abstraktion zur Erkenntnis? Was bedeutet es, etwas "verstanden" zu haben? Welche Rolle kommt der Empirie bei der Erkenntnis der Natur zu?

Grundfragen, die nicht nur den Naturwissenschaftler, sondern im Grunde jeden angehenden und schon "fertigen" Akademiker umtreiben (oder umtreiben sollten). Bevor Vollmer mit seiner "Evolutionären Erkenntnistheorie", welche die evolutionäre Herkunft des Menschen aus seinen tierischen Vorfahren und Verwandten in Betracht zieht, in medias res geht, rekapituliert er kritisch die Ansätze seiner philosophischen Vorgänger von der Antike bis in die Jetztzeit und zeigt auf, wo und warum sie mit ihren (überholten) Ansätzen scheitern mussten. Immer wieder zeigt sich, dass Denker früherer Jahrhunderte an eben jener Hürde gescheitert sind, welche die Evolutionäre Erkenntnistheorie schließlich zu nehmen wusste: das Nichtbeachten der biologischen Natur des Menschen, der daraus erwachsenden Rahmenbedingungen und Beschränkungen, die wildwuchernder Spekulationen Einhalt gebieten und das Nachdenken über das Denken und Erkennen in geregelte, vernünftige Bahnen zu lenken vermögen.

Der zweite Band dreht den Spieß gewissermaßen um und diskutiert Fragen, die nun dem Naturwissenschaftler in die Wiege gelegt sind und ihm oft genug auf den Nägeln brennen: Kausalität und Reduktionismus, das "Leib-Seele-Problem" (wenn es denn eins ist!), das Versagen der Anschaulichkeit in der modernen Physik und vieles mehr werden hier auf dem gleichen hohen und redlichen Niveau diskutiert wie die Themen des ersten Bandes.

Die in den beiden Bänden des Werkes als Kapitel versammelten Beiträge sind zumindest teilweise schon früher und unabhängig voneinander als eigenständige Abhandlungen erschienen. Doch ergibt sich keinesfalls der Eindruck eines "Flickenteppichs"; die so sorgfältig formulierten wie ausgearbeiteten Aufsätze bilden ein harmonisches Ganzes, dem die Logik des sprichwörtlichen "roten Fadens" zugrunde liegt. Alles hat Hand und Fuß, und weil Vollmer nicht predigt, sondern immer wieder auch als advocatus diaboli in eigener Sache auftritt, mögliche Einwände vorhersieht und durch selbstkritische Analyse entkräftet oder zumindest frank und frei einräumt, erhebt sich "Was können wir wissen?" aus der Masse der philosophischen Literatur und macht es zu einer Sternstunde zeitgenössischer akademischer Literatur.

Nachdrücklich empfohlen sei dieses brillante Werk, das der Hirzel-Verlag in eine ihm angemessene bibliophile Form gegossen hat, ohne dabei in das Reich der Phantasiepreise abzugleiten, allen Studenten (derzeitigen wie ehemaligen) erkenntnisorientierter Fächer, geisteswissenschaftlichen ebenso wie naturwissenschaftlichen: also eigentlich schlichtweg allen, die studieren. Besonders ans Herz zu legen ist das Werk auch allen Lehrern naturwissenschaftlicher Fächer, die ja in ihrer beruflichen Praxis regelmäßig vor den Problemen unvermeidbarer Vereinfachungen und der Veranschaulichung komplizierter Lehrinhalte stehen.

Viele der von Vollmer diskutierten Punkte werden im Rahmen einer ordentlichen wissenschaftlichen Ausbildung von guten Lehrern (akademischen wie schulischen) gleichsam "nebenher" vermittelt. Aber die Lektüre dieses Buches ist auch zusätzlich ein intellektuelles Vergnügen – und sei es nur deshalb, weil es in der heutigen Zeit im Heer der Wortklauber nur noch wenige gibt, die mit der Präzision und dem rhetorischen Schliff eines Gerhard Vollmer ihre Gedanken in Worte fassen können.

Auch in dieser Hinsicht ist "Was können wir wissen?" Paradebeispiel und Messlatte zugleich. Alle, die selbst Druckreifes zu Papier bringen und zu diesem Zweck ihre "Schreibe" verbessern wollen oder müssen, können sich hier bei einem Altmeister abschauen, "wie es gemacht wird". Jeder, und wirklich jeder, der in seinem Kopf, den die Evolution in Jahrmillionen währender mühevoller Arbeit mit einer absolut einzigartigen Fähigkeit zum Erkennen und Verstehen ausgerüstet hat, beim Blick in den Spiegel mehr sieht als einen mobilen Hutständer, sollte nach "dem Vollmer" in seiner Buchhandlung Ausschau halten. Und wenn er nicht dasteht, den Buchhändler tadeln!

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