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Großes Kino

"Viele Neurowissenschaftler jenseits der 50 haben das Gefühl,endlich über genügend Weisheit und Expertisezu verfügen, um das Problem des Bewusstseins zu lösen", schreibt Chris Frith, Jahrgang 1942 und selbst Neurowissenschaftler.Der Brite fügt in einer Fußnote augenzwinkernd hinzu: "Ganz egal, ob sie experimentell zu diesem Problem gearbeitet haben oder nicht." Nimmt sich hier ein Forscher selbst auf den Arm?

Die leise Selbstironie, die dieses Buch von der ersten Seite an durchzieht, hebt es wohltuend von vielen anderen Werken ab. Frith hat gut lachen, denn sein großer Vorzug besteht genau darin: Er hat experimentell ergründet, wie das Gehirn die Welt erschafft, und zwar mehr als drei Jahrzehnte lang auf so verschiedenen Gebieten wie der Handlungssteuerung, der Empathie und der funktionellen Architektur des Gehirns. Neben mehr als 200 Fachartikeln schrieb der Autor mehrere Bücher – darunter dieses, das 2007 im englischen Original erschien.

Frith gelingt das Kunststück, die enorme Bandbreite der kognitiven Neurowissenschaften nicht nur anhand vieler konkreter Beispiele darzustellen, sondern auch die Bedeutung ihrer Ergebnisse auszuloten. Was verraten uns all die pfiffigen Laborversuche und verblüffenden Effekte über uns selbst? Das fasst Frith präzise und laienverständlich zusammen, ohne sich (wie manche Forscher) in Details und Spitzfindigkeiten zu verlieren oder (wie viele Journalisten) Binsenweisheiten oder vermeintliche Sensationen zu präsentieren.

Eine der mehr als 100 im Buch vorgestellten Arbeiten betrifft das Kitzelempfinden bei Schizophrenie: Warum können sich viele Schizophrene – anders als Gesunde – selbst kitzeln? Offenbar ist die neuronale Maschinerie der Betroffenen auf ganz basaler, sensomotorischer Ebene gestört. Die Folge: Anders als "normale Gehirne", die selbst erzeugten Input aus dem Sinnesmix herausrechnen, werten Schizophrene dies offenbar eher als reales Kitzeln – und brechen in Lachen aus.

Hinter den Kulissen

Unterm Strich steht eine klare Botschaft: So erstaunlich (und immer noch rätselhaft) es sein mag, dass der Mensch über Bewusstsein verfügt – noch viel erstaunlicher ist es, wie viel uns von der eigentlichen Hauptbeschäftigung des Gehirns verborgen bleibt. Nämlich fast alles.

Unser Gehirn macht überaus differenzierte und wohl begründete Vorannahmen, prüft Hypothesen, zieht Schlüsse, prophezeit zu erwartende Ereignisse und gaukelt uns Autonomie unseres Handelns so erfolgreich vor, dass selbst das bewusste Reflexionsvermögen in diesem Illusionstheater gefangen bleibt. Doch hat der Geist immerhin einige Mittel gefunden, hier und da hinter die Kulissen zu blicken – vor allem dank der experimentellen Wissenschaft.

So geht es Frith letztlich gar nicht darum, zu erklären, was Bewusstsein ist, sondern, was diesem alles entgeht und warum das so sein muss. Das ist kein Abgesang auf unseren vermeintlich naiven Drang nach Selbstgewissheit, wohl aber eine Aufforderung, dem Augenschein zu misstrauen. Es gibt wenige Bücher, die diesen Appell ähnlich anschaulich und fundiert mit Leben füllen, gewürzt mit einer guten Portion Humor.
  • Quellen
Gehirn&Geist 7–8/2010

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