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Ansichten eines Reduktionisten

Dick Swaab ist eine sympathische Plaudertasche. Man fühlt sich ein bisschen, als hätte der Autor zum Kaffeeklatsch eingeladen und wolle die Zuhörer mit frechen Sprüchen und Wissenswer­tem zum Gehirn unterhalten: Wie entwickelt es sich im Mutterleib und nach der Geburt? Wie wird es auch im späteren ­Leben noch geprägt? Der Autor, einer der führenden niederländischen Hirnforscher, kam selbst im Hungerwinter 1944 zur Welt. Er weiß, wie sich das hätte auswirken können, denn im Säuglingsalter reagiert das Gehirn sehr empfindlich auf Unterversorgung mit Nährstoffen. So man­ches Kind trägt langfristige Schäden davon.

Der Tenor des Buchs ist klar: Wir sind nicht so frei, wie wir gern wären. Unser Gehirn ist ein Produkt aus genetischen Anlagen und einer "Programmierung", die während der Entwicklung in der Gebärmutter beginnt und sich in der ersten Lebenszeit fortsetzt. Erst wirke die chemische Umgebung bei der Gestaltung des Gehirns mit, später das soziale Umfeld. Manche Eigenschaften wie Sexua­lität oder Aggressionsverhalten seien schon zum Zeitpunkt der Geburt fest­geschrieben. In der ersten Schwangerschaftshälfte etwa würden die Geschlechtsorgane ausgebildet, in der zweiten Hälfte dann die sexuelle Orientierung. In mancherlei Hinsicht sei es deshalb unmöglich, über den eigenen "zerebralen Schatten" zu springen – also den eigenen Anlagen zuwiderzuleben.

Swaab führt diesen Gedanken in verschiedenen Kapiteln aus. Er beginnt mit der These, dass das Gehirn pränatal typisch männliche oder weibliche Merkmale entwickelt – anders lautende Befunde verschweigt der Autor allerdings. Er führt dann durch die Baustelle der Pubertät, diskutiert Drogenerfahrungen, lehrt den Leser etwas Neuroanatomie und schließt mit dem alternden Gehirn. Zudem räumt er Störungen wie Autismus, Kopfschmerz oder Narkolepsie den gebührenden Raum ein. Zum Schluss kommen dann die Evergreens der Hirnforschung an die Reihe, wie die Debatte um den freien Willen sowie die neurobiologische Verortung von Geist und Religio­sität. Auch hier zeigt Swaab auf, inwiefern etwa unser Glaube von Biologie und Umwelt bestimmt ist – und keineswegs einer freien Willensentscheidung unterliegt.

Dabei trifft der ehemalige Professor für Neurobiologie von der Universität Amsterdam einen Ton, der weder zu oberflächlich noch zu dozierend daherkommt. Das ist nicht allein das Ergebnis seiner rund 40 Jahre währenden Forschungs­arbeit, sondern auch die Frucht einer Auseinandersetzung mit Patienten auf Augenhöhe. Außerdem bereitet es Vergnügen, dass sich Swaab nicht unnötig in Diplomatie übt. Ungeniert verteilt er Seitenhiebe gegen politische, religiöse oder mütterliche Mehrheiten und Minderheiten.

Swaab ist Reduktionist und verortet die Wurzeln der menschlichen Persönlichkeit in den Strukturen und Prozessen des Gehirns. Das heißt jedoch nicht, dass er dem Biologismus das Wort redet. Als menschenfreundlicher Utopist ist er der Ansicht, dass ein tieferes Verständnis des Gehirns zu einer besseren Welt beitragen kann. Und während er seinen Lesern die nötigen Einblicke vermittelt, trinken wir mit ihm gern noch eine Tasse Kaffee.

  • Quellen
Gehirn & Geist 4/2012

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