Brüderlicher Handel mit dem Pharao
Wer in die Vergangenheit zurückschaut, muss sich von der Last eigener Erfahrungen befreien – verstellen sie doch den objektiven Blick auf das Geschehene. Allzu leicht setzen wir voraus, dass die Menschen damals ähnlich dachten und agierten wie wir heute. Aus gutem Grund betont der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer in seiner überaus lesenswerten "Wirtschaftsgeschichte der Antike" daher gleich zu Anfang, wie sehr "die mentalen Dispositionen, die das wirtschaftliche Handeln von Menschen im Alten Orient, in Griechenland und in Rom leiteten, von modernem Denken abweichen".
Sommer spannt einen durchaus kühnen geschichtlichen Bogen. Er beginnt bei der neolithischen Revolution vor 11.000 Jahren, als die Menschen begannen, sich niederzulassen und Vorräte anzulegen, beschreibt sodann die Zeit der Urbanisierung, in der sich die Gesellschaften hierarchisch differenzierten, geht über zu den bronzezeitlichen Imperien mit ihren komplexen Netzwerken aus Macht und Handel, und erreicht schließlich die Welt der Griechen und Römer, deren Beziehungen bis nach Indien und China reichten.
Dass die Menschen damals eben nicht "unter dem Primat derselben ökonomischen Vernunft handelten wie wir heute", zeigt Sommer unter anderem am Beispiel der Amarna-Briefe aus dem Archiv Pharao Echnatons (14. Jahrhundert v. Chr.). Sie geben tiefe Einblicke in die Beziehungsgeflechte des Pharaos mit benachbarten Herrschern. Stets richten sie sich vom "Bruder" an den "Bruder" oder – bei Schreiben an Vasallenkönige – vom "Vater" an den "Sohn". In dieser zeremoniellen Sprache der Brüderlichkeit, wie Sommer sie bezeichnet, wurden Geschenke und Güter ausgetauscht. Hinweise auf ökonomische oder machtpolitische Motive fehlen oder sind "bis zur Unkenntlichkeit in ein kodiertes System sozialer Normen eingelassen".
Doch war diese Form der brüderlichen Ansprache wirklich nur sprachliche Konvention, und verbargen sich hinter den Formalismen in Wahrheit tatsächlich handfeste ökonomische Interessen? Oder war den Akteuren die wirtschaftliche Dimension des Austauschs von Gütern und Dienstleistungen gar nicht bewusst? Dieser Ungewissheit muss man sich stets bewusst sein – eine Antwort ist nach derzeitigem Stand der Forschung nicht möglich.
An anderer Stelle beschreibt Sommer, wie wenig die Menschen einige Jahrhunderte später am wirtschaftlichen Leben teilhatten. So reichten die Handelsbeziehungen der Griechen und Römer zwar bis ins ferne China – doch waren die dort erworbenen Güter derart kostbar und teuer, dass außerhalb der Eliten kaum jemand von diesen Waren und ihrer Herkunft wusste. In vielerlei Hinsicht sind wir heute also über die Verhältnisse im alten Rom viel besser informiert als die meisten damaligen Bewohner des Reichs.
Ein drittes Beispiel: Jene Vasen aus Athen, die im sechsten vorchristlichen Jahrhundert in der gesamten antiken Welt hochgeschätzt wurden und von denen bis heute viele Tausend erhalten sind, stammen aus den Händen von gerade einmal 200 Handwerkern! Tatsächlich war damals kaum jemand im produzierenden Gewerbe tätig – auch wenn es bereits Massenfertigung gab. Denn im antiken Griechenland sowie später bei den Römern war die Oikonomía (die Bestellung des eigenen Hauses) erste Bürgerpflicht. Laut Xenophon etwa bestand die "höchste Tätigkeit und Wissenschaft für einen guten und ehrenhaften Mann" in der Landwirtschaft, während der einfache Handwerker (banausikaí) "zu Recht in den Städten verachtet" war. Aristoteles beklagte in dem Zusammenhang das "grenzenlose Mehrhabenwollen" der Handwerker und Kaufleute.
Michael Sommers "Wirtschaftsgeschichte der Antike" ist ein wirklich lesenswertes Buch. Zum einen deshalb, weil es dem Autor gelingt, auf gerade einmal 120 Seiten tiefe Einblicke in das Wirtschafsleben dieses mit Abstand längsten Abschnitts europäischer Geschichte zu gewähren – in die damaligen Wechselbeziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Herrschern und ihren Völkern. Zum anderen, weil Sommer all dies wunderbar erzählt. Der Band ist großartig geschrieben, von großer fachlicher Tiefe und zugleich voller anschaulicher Beispiele.
Mag sich das Denken der antiken Menschen noch so sehr von unserem unterscheiden, mögen die Beweggründe der damaligen Akteure noch so fremdartig erscheinen – am Ende der Lektüre wird dennoch klar, wie stark unsere heutige Welt in der Antike fußt. Und wie sehr das moderne Europa ein Ergebnis eben dieser 11.000 Jahre langen Geschichte ist.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben