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Zwischen Okkultismus und Rationalismus. (Pseudo-) Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin um 1900

Wissenschaft ist ein Kulturgut. Sie wird gemacht, nachgefragt und auch vertrieben. Und sie geht i.d.R. weit mehr Menschen an als nur die wissbegierigen Protagonisten selbst. Die Möglichkeiten der Gentechnik, über die wir derzeit fast im Tagesrhythmus neu staunen können, sind dafür wohl das beste Beispiel. Sechs junge Historikerinnen und Historiker um den Herausgeber Constantin Goschler haben jetzt ihre Forschungen zum Thema „Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870-1930“ in einem hübsch überschaubaren Band versammelt und legen am Beispiel Berlin dar, dass sich Wissenschaftspopularisierung schon vor 100 Jahren als „Aushandlungsprozess“ zwischen Elitewissenschaft und Laien darstellte. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde der öffentliche Raum Berlins zunehmend von der Wissenschaft durchdrungen. Ein Beispiel dafür waren die überall im Stadtbild verteilten Normaluhren. Zahlreiche Akademien, wissenschaftliche Vereine, Volkshochschulen, Museen und natürlich das boomende Pressewesen trugen dazu bei, dass den Berlinern Wissenschaft damals etwas Alltägliches wurde. Die einzelnen Forschungsbeiträge, allesamt gut recherchiert und verständlich vorgetragen, behandeln zeitlich wie disziplintechnisch sechs verschiedene über den untersuchten Zeitraum verstreute Stücke aus dem großen (populär-) wissenschaftlichen Kuchen der Hauptstadt. Heraus stechen dabei vielleicht Arne Hessenbruchs Studie über „Science as a Public Sphere. X-Rays Between Spiritualism and Physics“, wo populäre okkult-spiritualistische wie seriöse Ausdeutungen der 1895 entdeckten Röntgenstrahlen einander gegenübergestellt werden, sowie Ulrike Felts Überlegungen zum Thema “Stadt als verdichteter Raum der Begegnung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit”. Die Professorin für Wissenschaftsforschung an der Universität Wien analysiert hier eindrucksvoll, dass öffentlich ausgetragene „wissenschaftliche“ Dispute auch immer Kontroversen um Weltanschauungsfragen, Wertesysteme und Herrschaftsansprüche sind. Der lobenswerte Versuch, das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als „Wechselbeziehung“ zu problematisieren, wird in allen Fallstudien weitgehend konsequent eingelöst. Eine umfassende Darstellung des Wissenschaftsdiskurses im Berlin zwischen 1870 und 1930 findet der Leser allerdings gar auf keinen Fall vor. Das wohl folgenreichste Kapitel in dieser Hinsicht, die Vulgarisierung der Relativitätstheorie in den 1920er Jahren, wird von den sechs Schlaglichtern beispielsweise nicht erfasst. Muss sie aber auch nicht — denn die zahlreichen kleineren Begebenheiten sind ihrer historischen Aufhellung ebenfalls wert!

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