Stelldichein der Neuroexperten
Der Regisseur Woody Allen bekannte einmal, dass das Gehirn nur sein "zweitliebstes Organ" sei und dass andere Körperteile mehr Spaß hätten. Doch kein anderes Organ hat in den vergangenen Jahren eine derart steile Karriere hingelegt. Die Hirnforschung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Manche Wissenschaftler dieses Fachs haben sogar eine gewisse öffentliche Bekanntheit erlangt.
Einige von ihnen zählen zu den 17 Hirnforschern, die Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, zusammen mit dem Neurobiologen Tobias Bonhoeffer zu diesem Sammelband eingeladen hat. In einem Dutzend Aufsätzen fassen sie Ergebnisse zusammen oder laden zur Diskussion ein – über Evergreens ihres Fachs und über aktuelle Themen, wie sie auch auf den Wissenschaftsseiten oder in den Feuilletons zu finden sind.
Im Eingangskapitel etwa beschreiben Mark Hübener und Rüdiger Klein vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried, wie sich das Gehirn entwickelt. Damit sich Nervenzellen verknüpfen, müssen sie aktiv sein. Zuerst erzeugt das Gehirn selbst intern diese Aktivität, später übernehmen Sinneseindrücke die Aufgabe.
Wie Sprache entsteht und in welchen Hirnregionen sie verankert ist, erörtert Angela D. Friederici vom MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Tatsächlich werden sprachliche Funktionen über die Sprachgrenzen hinweg in den gleichen Arealen gespeichert. Gerd Kempermann von der Technischen Universität Dresden untersucht in seinem Beitrag therapieresistente Krankheiten. Er setzt seine Hoffnungen auf Stammzellen, darunter schillernde Unbekannte wie die hirneigenen Stammzellen, die in manchen Hirnregionen selbst im Alter noch für Nachschub sorgen.
Den kultur- und naturwissenschaftlichen Blick vereinen Ute Frevert vom MPI für Bildungsforschung in Berlin und Tania Singer vom Leipziger MPI. Sie konzentrieren sich auf Empathie: Die theologisch begründete Nächstenliebe habe im 18. Jahrhundert dem natürlichen Mitgefühl den Platz geräumt. Allerdings setzt die begriffsgeschichtliche Analyse in der Kulturgeschichte etwas spät ein und bleibt oberflächlich.
Nicht zuletzt streiten der bekannte Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer und der Philosoph Julian Nida-Rümelin in Rede und Gegenrede über den freien Willen. Und welche Konsequenzen die Erkenntnisse der Neurowissenschaften für Recht und Ethik haben, loten der Jurist Reinhard Merkel von der Universität Hamburg und der Bielefelder Psychologe und Hirnforscher Hans J. Markowitsch gemeinsam aus.
Treffend bezeichnet der Verlag den Sammelband als Lesebuch. Die zurückhaltend bebilderten Aufsätze sind nicht so detailliert wie ein wissenschaftlicher Artikel, aber dichter als viele populärwissenschaftliche Bücher. Wohlgemerkt, hier schreiben Wissenschaftler: Sie verzichten auf journalistische Vereinfachungen, und die Fachbegriffe geben sich ein munteres Stelldichein. Vorkenntnisse sind zwar nicht unbedingt notwendig, erleichtern aber die Lektüre. Und die lohnt sich zweifelsohne, denn das Gehirn bleibt aufregend. Nicht nur, weil es auch als das größte Sexualorgan gilt, wie selbst Woody Allen zugeben musste.
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