Kernwaffennutzung: Atombomben – die verdrängte Gefahr
Der YouTube-Kanal »Kurzgesagt – in a Nutshell« hat ein knappes Video veröffentlicht, das die Auswirkungen eines Atomschlags auf eine Stadt vorführt. Die Autoren haben ein relativ einfaches Szenario gewählt. Sie lassen eine große Wasserstoffbombe ohne Vorwarnung über einer einzelnen Stadt explodieren und diskutieren die direkten und kurzfristigen lokalen Folgen. Andere Städte sind nicht betroffen, die staatliche Infrastruktur außerhalb des Katastrophengebiets bleibt intakt, das Militär greift nicht ein.
Das Video zeigt zunächst die unmittelbaren Effekte der Explosion und dann die verschiedenen Schadensauswirkungen. Eine Wasserstoffbombe besteht aus zwei Komponenten: aus der Uran- oder Plutoniumladung, die ihre Energie aus der Kernspaltung bezieht, und aus der sehr viel stärkeren Fusionsbombe. Sie nutzt die schlagartig freigesetzte Energie aus der Kernspaltung, um schweren Wasserstoff (Deuterium) zu Helium zu verschmelzen. Millisekunden nach der Zündung der Bombe entsteht ein Feuerball, der sich schnell ausbreitet. Seine maximale Ausdehnung hängt von der Stärke der Explosion ab. Die heiße Luft dehnt sich aus und erzeugt eine enorme Druckwelle, die nach außen rast und in weitem Umkreis Gebäude zerstört und Menschen verletzt oder tötet. Weil die Explosion eine enorme Menge radioaktiven Materials freisetzt und in die Luft bläst, fällt Stunden bis Tage nach dem Atomschlag auf einer riesigen Fläche radioaktiver Staub herunter, der so genannte Fallout. Hitze, Druckwelle und Radioaktivität vereinigen sich zu einer höllischen Mischung. Die im Video angegebenen Zahlen für die Größe des Feuerballs und die Ausdehnung der Druckwelle entsprechen der Wirkung einer Explosion von 1,3 Mt TNT. Die Abkürzung Mt steht für Megatonnen, also Millionen Tonnen, und gibt die Sprengwirkung an. Dabei dient der chemische Sprengstoff TNT als Vergleich. Die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von nur 12 500 Tonnen oder 12,5 Kilotonnen TNT. Die aktuellen amerikanischen und russischen Atomwaffen verfügen über eine maximale Sprengkraft von etwa 500 Kt. Das ist deutlich weniger als im Video gezeigt, reicht aber immer noch für die völlige Auslöschung einer Großstadt.
Der YouTube-Kanal »Kurzgesagt – in a Nutshell«, unterhalten von der gleichnamigen Firma in München, hat sich darauf spezialisiert, leicht verständliche populärwissenschaftliche Texte mit Videos zu unterlegen, die an knallbunte Computerspiele aus der Zeit des Commodore 64 erinnern. Das kommt gut an, und das Unternehmen behauptet, den größten europäischen Wissens- und Wissenschaftskanal auf YouTube zu betreiben. Natürlich könnte man fragen, ob die unterhaltsame Darstellung einem so ernsten Thema gerecht wird. Aber andere Arten der Aufarbeitung sind ebenfalls schwierig. Der britische Fernsehfilm »Threads« aus dem Jahr 1984 zeigt beispielsweise einen massiven nuklearen Angriff auf Großbritannien als Dokudrama und lässt keine brutalen Einzelheiten aus. Das ist auch für heutige Zuschauer nur schwer erträglich, selbst wenn sie von »Game of Thrones« gegen Grausamkeiten aller Art ziemlich abgehärtet sind. Wer auf YouTube Unterhaltung sucht, wird einen solchen Film kaum ansehen wollen. Auf der anderen Seite würde ein betont neutraler Vortrag mit Diagrammen, Schaubildern und Tabellen eher langweilen. Vermutlich ist der knapp neun Minuten lange Film mit den bunten animierten Zeichnungen eine gute Wahl, um die grausigen Auswirkungen eines Atomangriffs auf eine Stadt eindringlich darzustellen, ohne die Mehrzahl der Zuschauer unterwegs zu verlieren.
Viele Wissenschaftler glauben, dass ein Atomkrieg jederzeit ausbrechen könnte. Russland und die USA, die beiden mit Abstand größten Atommächte, rüsten inzwischen wieder auf. China entwickelt und baut mit großem Engagement futuristische Waffensysteme. Indien und Pakistan balancieren seit Jahrzehnten am Rande eines Krieges entlang. Mitte 2019 horteten die neun Atommächte insgesamt fast 14 000 nukleare Sprengköpfe. Ungefähr ein Viertel davon stehen zum unmittelbaren Einsatz bereit. So unglaublich es klingt: Das ist schon ein Fortschritt. Im Jahr 1986 zählten Forscher noch etwa 70 000 Sprengköpfe. Auch die heutige Zahl reicht natürlich aus, um die Welt in die Steinzeit zurückzuschicken. Die UNO hat zwar im Jahr 2017 einen Atomwaffenverbotsvertrag auf den Weg gebracht, aber keine der Atommächte – und kein NATO-Staat – hat ihn unterschrieben. Damit bleibt er, wie nicht anders zu erwarten, vollkommen wirkungslos.
Da ist es schon erstaunlich, wie gelassen die Öffentlichkeit mit der Bedrohung umgeht. Während die Furcht vor dem Klimawandel Hunderttausende auf die Straße treibt, raubt die Aussicht auf einen Atomkrieg nur wenigen Aktivisten den Schlaf. Entsprechend gering ist der Druck auf die Politik. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe schreibt auf seinem Webportal ausdrücklich, dass öffentliche Schutzräume nicht mehr vorgehalten werden. Sie entsprächen nicht mehr den aktuellen Bedrohungsszenarien. Die letzte umfassende Untersuchung über die Auswirkung eines massiven atomaren Angriffs auf Deutschland liegt beinahe 50 Jahre zurück, und die jüngste Auflage des internationalen Standardwerks über die Wirkungen von Nuklearwaffen stammt aus dem Jahr 1977.
Eine in großer Höhe gezündete Atombombe kann ähnliche Auswirkungen auf elektrische Geräte haben wie ein Blitzeinschlag in unmittelbarer Nähe. Während ein Blitz aber nur im Umkreis von 100 Metern merkliche Schäden anrichtet, würde ein NEMP, ein nuklearer elektromagnetischer Impuls, ganz Mitteleuropa verwüsten. Computer, Hochspannungsleitungen, Handys, Fernseher und digitale Netze würden beschädigt oder zerstört. Es könnte Wochen dauern, wenigstens die Stromversorgung wiederherzustellen. Bisher hat weder die deutsche Regierung noch die EU-Kommission eine Untersuchung veranlasst, um mögliche Auswirkungen zu erfassen oder Vorsorgemaßnahmen zu evaluieren. Anders als man oft annimmt, löschen selbst zehn große Kernwaffenexplosionen in Deutschland nicht die gesamte Bevölkerung aus. Sehr wahrscheinlich würden mehr als 95 Prozent der Menschen überleben. Weil die Bedrohung nach wie vor äußerst real und gegenwärtig ist, sollte sich die Regierung aber vielleicht trotzdem mehr Gedanken darüber machen, mit welchen Mitteln sich im Ernstfall Menschenleben retten und Schäden verringern ließen.
Fazit: ein empfehlenswertes, gut gemachtes Video zu einem wichtigen und zu Unrecht aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängten Thema. Für alle, die sich näher damit befassen wollen, haben die Autoren zusätzlich zum Video ein ausführliches Quellenverzeichnis ins Internet gestellt.
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