Filmkritik: "Ghost in the shell": Cyborgs und Cyberspace: Was wir früher für die Zukunft hielten
Es ist die nahe Zukunft, in die uns "Ghost in the Shell" führt – aber ist sie eine Zukunft, mit der wir wirklich rechnen müssen? Einer jungen Frau, die ohne Erinnerungen an ihre Vergangenheit erwacht, erklärt man mitfühlend, sie sei Opfer eines Terroranschlags: Ihr Körper sei zerfetzt worden, aber man habe ihr Gehirn gerettet und in einen humanoiden Roboter eingesetzt, der dem weiblichen Körper nachempfunden ist.
So mutiert sie zu einem "Geist in der Maschine", einem kybernetischen Organismus, einem Cyborg. Mit ihrer überlegenen Kraft, Schnelligkeit und Koordination bekämpft sie für die geheime Regierungsorganisation Sektion 9 Kriminelle und Terroristen. Aber bald stellen sich bruchstückhafte Erinnerungen an ihre Vergangenheit ein, die nicht zu dem passen, was man ihr erzählt hat.
Der etwas schlichte Plot spielt in einer Welt, in der die Menschen dicht gedrängt in düsteren Metropolen leben. Wer es sich leisten kann, rüstet seinen Körper mit metallenen Implantaten auf und erhält mittels einer Platine im eigenen Gehirn direkten Zugriff auf das weltweite Computernetz, den Cyberspace. Androiden haben den Menschen die einfachen Arbeiten abgenommen, auf breiter Front steht die symbiotische Verschmelzung von Mensch und Maschine bevor. Die Staaten der Welt haben die Entwicklung hoffnungslos verschlafen und sind nur noch Marionetten übermächtiger multinationaler Konzerne, die all diese Hochtechnologie kontrollieren.
Derartige Visionen der nahen Zukunft, bekannt als Cyberpunk, stammen aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Bis etwa Mitte der 1990er Jahre waren sie eine der wichtigsten Strömungen der auf wissenschaftliche und technische Genauigkeit zielenden Hard-Science-Fiction.
Heute hat der Cyberspace beziehungsweise seine etwas prosaischere Variante, das Internet, auch in der Realität sämtliche Lebensbereiche ergriffen. Aber die zentrale Idee des Cyberpunk, die Verschmelzung von Mensch und Maschine, kommt nicht voran. Sicherlich wächst der Markt für elektronisch gesteuerte Implantate und Prothesen mit verblüffender Geschwindigkeit. Millionen von gehörlosen Menschen tragen Cochlea-Implantate, die direkt den Hörnerv stimulieren. Immer häufiger implantieren Ärzte kleine Pumpen zur Unterstützung eines versagenden Herzens. Hirnschrittmacher lindern bereits bei mehr als 130.000 Patienten Krankheiten wie Parkinson, Depressionen, Tremor oder Dystonien, auch in bisher hoffnungslosen Fällen.
Doch ein Gehirn, auf sich allein gestellt, in einem Roboterkörper? Fehlanzeige. Implantate zur Aufrüstung des Körpers, gar ausgefeilte Hirn-Computer-Schnittstellen? Bis auf Weiteres: unmöglich. Heutige Endoprothesen optimieren den Menschen nicht, sondern stellen lediglich verloren gegangene Funktionen wieder her – mit beträchtlichen Einschränkungen. Ein Cochlea-Implantat vermittelt kein normales Hörerlebnis: Die Töne erscheinen verzerrt und fern, schon Telefonieren ist schwierig. Von vielen Kunstherzen führen Kabel durch die Haut nach außen und laden so Krankheitserreger in den Körper ein. Elektroden von Hirnschrittmachern lösen eine Vielzahl von unerwünschten Wirkungen aus. Auch eine filigrane Schnittstelle zwischen Digitaltechnik und Nervenzellen muss noch erfunden werden – die Signale eines Gehirns lassen sich bislang nur grob entschlüsseln.
Cyberpunk war eine großartige und düstere Vision von der Zukunft der Menschheit – bis er von der wirklichen Entwicklung überholt wurde. Und nach wie vor sind es keine Konzerne, sondern Staaten und ihre Geheimdienste, die im Internet das Sagen haben.
Der britische Regisseur des Films, Rupert Sanders, hätte es aufgrund des heutigen Kenntnisstands also besser wissen können. Mit "Ghost in the Shell" knüpft er an die japanische Manga-Serie gleichen Namens aus dem Jahr 1989 an, die als Meilenstein des Cyberpunks gilt. Bei dem Drahtseilakt, sich nicht zu weit von der Welt des ursprünglichen Mangas zu entfernen und gleichzeitig dessen vor 25 Jahren noch plausible Botschaft zu aktualisieren, ist er aber leider abgestürzt. Das Ergebnis erinnert eher an ein klug animiertes Computerspiel. Er hält sich ohne Rücksicht auf die tatsächliche Entwicklung streng an die alte Vorlage und führt uns vor, wie unsere Gegenwart hätte aussehen können. Obendrein geht er mit pseudotiefsinnigen Kurzdialogen der philosophischen Frage aus dem Weg, was eigentlich die Essenz des Menschlichen ausmacht, wenn man alle seine Teile durch Maschinen ersetzen kann.
Mehr auf der Höhe der Zeit zeigt sich beispielsweise Simon Barrys kanadische Fernsehserie "Continuum" (2012 – 2015). Sie berichtet von einer dystopischen Zukunft, in der die Staatenwelt unter der Last unbewältigter Probleme zusammengebrochen ist. Internationale Konzerne nutzten das Machtvakuum und und schufen ein Ausbeutungsregime. Statt Cyborgs patrouillieren hier paramilitärische Einheiten, denen künstliche Augenlinsen zu Augmented-Reality-Wahrnehmungen verhelfen.
Ohne Zweifel: "Ghost in the Shell" ist ein optisch brillantes Werk, aber bestenfalls Retro-Science-Fiction. Es bringt Zukunftsängste und -hoffnungen auf die Leinwand, die einer längst vergangenen Zeit angehören.
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