Epigenetik: Der zweite Code des Lebens
Typ 2 Diabetes – eine Volkskrankheit der modernen Überflussgesellschaft. Auslöser ist eine Stoffwechselkrankheit, die mit dem Hormon Insulin zusammenhängt. Insulin wird in der Bauchspeicheldrüse produziert und abgespeichert. Wird dem Körper Nahrung zugeführt, wird Insulin ins Blut ausgeschüttet. Hier ist es dafür verantwortlich, dass der Zucker aus der Nahrung in die Muskelzellen kommt – also dorthin, wo daraus Energie gewonnen wird. Eine Fehlfunktion in den Zellen führt jedoch dazu, dass sie das Insulin als Transporter des Zuckers nicht erkennen und daher die Glukose nicht verarbeiten – der Effekt: der Zuckergehalt im Blut steigt.
Die Forschung hat zwar genetische Ursachen für die Krankheit ausgemacht, doch die allein reichen bei weitem nicht aus, um die epidemiologisch nachgewiesene rasante Verbreitung der Krankheit zu erklären. Bisher haben Forscher vor allem nach Gründen außerhalb der Genetik gesucht: beispielsweise Umwelteinflüsse im Uterus, die auf den Fötus wirken, die Muttermilch oder das Biom, das Familienangehörige teilen und so eine Prädisposition für Diabetes im lebenden Organismus herausbildet. Auch epigenetische Vererbung – also der Einfluss der Umwelt auf das Genom – war grundsätzlich nicht auszuschließen; aber das Interesse der Forscherwelt, dieser Frage konkret nachzugehen, war eher gering. Wollte man sie klären, dann musste man die Informationen in Eizelle oder Spermium nachweisen – den sogenannten Keimbahnzellen – und gleichzeitig alle anderen möglichen Faktoren ausschließen.
Eine Forschergruppe um den Genetik-Professor Johannes Beckers am Institut für experimentelle Genetik des Helmholtz Zentrum München wagte sich vor vier Jahren an das so schwer Vorstellbare und konzipierte ein epigenetisches Experiment. Künstliche Befruchtung von Mäuseeltern mit erworbener Diabetes vom Typ 2 in der Petrischale und die Aufzucht der Nachkommen in gesunden Leihmüttern unter identischen Bedingungen brachten den eindeutigen Nachweis. Allein in Spermium und Ei ist die Krankheit an die Nachkommenschaft statistisch signifikant epigenetisch vererbt worden. Welche Prozesse dafür genau verantwortlich sind, ist bisher noch nicht eindeutig nachgewiesen, aber in den jetzt folgenden Experimenten will die Gruppe genau diese Fragen beantworten. Sie hat bereits erste konkrete Hinweise darauf gewonnen, welche biochemischen Vorgänge in der Zelle verantwortlich sein könnten. Eine wichtige Rolle spielen dabei jene bisher noch wenig untersuchten nicht-kodierenden Teile des Genoms; denn auch sie werden über RNAs kodiert, wobei über die Funktionen dieser Transkripte in jeder Zelle noch wenig bekannt ist.
Für die Medizin haben solche Erkenntnisse weitreichende Folgen. Denn epigenetische Prozesse sind im Gegensatz zu genetischer Veranlagung grundsätzlich reversibel. Mit tiefer gehendem Wissen der biochemischen Prozesse kann sich Typ 2 Diabetes künftig möglicherweise gezielt durch Nahrungsergänzungen beeinflussen lassen. Doch es geht um mehr, denn die neuen Erkenntnisse der Epigenetik werden auch unser Menschenbild beeinflussen, zeigen sie doch, dass der Einzelne mit seinem Lebensstil mehr Einfluss auf seine Nachkommenschaft hat, als bisher erwartet. Eltern müssen also mehr als bisher über das Spannungsfeld zwischen persönlicher Freiheit und Verantwortung für ihre Nachkommenschaft nachdenken. In unserer Reportage befragte Susanne Päch den Genetiker Johannes Beckers und den Molekularbiologen Peter Huypens zur Durchführung des Experiments, den Ergebnissen und den jetzt anschließenden Forschungsfragen.
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