Star Trek: Die Gegenwart holt die Zukunft ein
Alt ist er geworden, und etwas bitter. Jean-Luc Picard, in 178 Folgen und sieben Staffeln Kapitän des Raumschiffs Enterprise, wollte seine letzten Jahren eigentlich auf dem idyllischen Weingut seiner Familie verbringen. Aber 15 Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Sternenflotte reißt ihn der Hilferuf einer jungen Frau aus seiner Lethargie. Wir schreiben das Jahr 2399, und Picard hat das stolze Alter von 94 Jahren erreicht. In der Eingangssequenz träumt er von einem Pokerspiel mit seinem langjährigen Freund, dem Androiden Data. Dieser einzigartige künstliche Mensch diente als Offizier auf der Enterprise unter seinem Kommando – und opferte am Ende sein Leben, um seinen Chef zu retten. Trotz seiner Verbitterung ist Picard so gealtert, wie wir uns das alle wünschen würden: Er wirkt etwas langsamer, etwas schläfriger, hält sich aber immer noch kerzengerade und ist im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Der 79-jährige Patrick Steward spielt ihn als einen Franzosen, wie er britischer kaum sein könnte. Er trinkt noch immer seinen Earl-Grey-Tee, jetzt aber koffeinfrei. Und vom Leben erwartet er nichts mehr. Aber dann erscheint Dahj, eine verwirrte junge Frau, auf seinem Weingut, und er muss wieder aktiv werden.
Zwei galaktische Katastrophen bilden den Hintergrund der neuen Serie. Die Sonne des Planeten Romulus ist in einer Supernova explodiert und hat den Planeten zerstört. Die Romulaner sind seitdem heimatlose Flüchtlinge. Picard mobilisierte alle Kräfte der Sternenflotte, um die Romulaner zu evakuieren, die seitdem als heimatlose Flüchtlinge auf anderen Planeten untergekommen sind. Die Rettungsaktion stieß auf wütende Kritik, weshalb Picard seinen Abschied nahm. Heute beschäftigt er ein romulanisches Ehepaar als Hausangestellte. Die zweite Katastrophe fand praktisch vor der Haustür der Erde statt: Durchgedrehte Androiden haben ohne Warnung den Planeten Mars angegriffen. Fast 100 000 Menschen fanden den Tod. Die Terrorattacke entzündete brennbare Gase in der Atmosphäre. Seitdem brennt die Marsoberfläche. Daraufhin wurden alle künstlichen Lebensformen verboten. Die Zuschauer erfahren das alles in einer Art Geschichtslektion ganz zu Anfang der ersten Folge.
Nach dem Besuch der jungen Frau sieht Picard ein Ölgemälde, das Data ihm vor vielen Jahren geschenkt hatte, plötzlich mit ganz anderen Augen. Und er hat den sehr begründeten Verdacht, dass es trotz des Verbots weiterhin Androiden nach dem Vorbild Datas auf der Erde gibt – und nicht nur dort. Er beginnt zu recherchieren. Es wird in der Serie also vermutlich um Flüchtlinge gehen, um künstliche Intelligenz und um die Frage, ob man eine ganze Gruppe von intelligenten Wesen für Terroraktionen einzelner bestrafen darf. Genaueres lässt sich kaum sagen, denn Amazon hat bisher nur die erste von zehn Folgen veröffentlicht und hält sich mit weiteren Informationen sehr zurück. Produzent der Serie ist CBS All Access, der kostenpflichtige Streamingdienst des amerikanischen Fernsehnetzes ViacomCBS. Für die meisten Länder einschließlich Deutschland hat Amazon die exklusiven Distributionsrechte erworben. Jede Woche erscheint eine neue Folge.
Der über Jahrzehnte anhaltende Erfolg der Star-Trek-Serien beruht nicht zuletzt auf dem Geschick der Drehbuchautoren, Zeitströmungen aufzunehmen und in die Handlung einzubauen. In der ersten Serie in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts reiste die Enterprise im Auftrag der Vereinigten Föderation von Planeten, in der alle Rassen und Nationen friedlich zusammenarbeiten. Das Raumschiff sollte eigentlich nur unbekannten Raum erforschen, war aber trotzdem schwer bewaffnet. Die Besatzung war militärisch organisiert. Die kriegerischen Klingonen geben die amerikanische Vorstellung von der Sowjetunion wider, dem Hauptgegner im Kalten Krieg. In der Serie »Enterprise – die nächste Generation« (1987-1994) spiegelte sich dagegen das Ende des Kalten Krieges. Die neue Enterprise unter Captain Jean-Luc Picard agierte sehr viel ziviler. Die Angehörigen von Besatzungsmitgliedern fuhren auf dem Raumschiff mit, und Picard kommandierte in deutlich höflicheren Tönen. Gleich mehrere Alien-Rassen, einschließlich eines Klingonen, waren Mitglieder der Besatzung. Die deutlich gewachsene Föderation ficht allerdings mehr militärische Konflikte aus als je zuvor.
Die erste Folge der neuen Serie nimmt viele aktuelle Themen auf. Auf der Erde leben Romulaner als heimatlose Flüchtlinge. Eine feindlich gesinnte Journalistin greift Picard für seine mutige Evakuierungsaktion frontal an. Androiden stehen unter Generalverdacht, weil einige von ihnen bei einem mutmaßlichen Terrorangriff den Mars angezündet haben sollen. Und die Autoren werfen die Frage auf, wie menschlich eine künstliche Intelligenz sein kann. Natürlich hat sich nicht alles geändert. Nach wie vor stellen sich die Serienmacher künftige Megastädte als eindrucksvolle Ansammlung wuchtiger Hochhäuser vor. Elegante Prachtbauten säumen in San Francisco und Okinawa die Küsten. Das Chateau Picard ist dagegen eine zeitlos idyllische Oase, es könnte vom antiken Rom bis in eine absehbare Zukunft in jeglicher subtropischen Weinbauregion stehen.
Aus wissenschaftlicher Sicht fallen einige grobe Fehler auf. Die Marsatmosphäre kann nicht in Brand geraten, weil es dort keine brennbaren Gase gibt. Es ist auch noch nicht zu erkennen, ob und wie weit aktuelle Forschungen zur künstlichen Intelligenz in die Serie einfließen. In der ersten Folge ist immer noch von einem »positronischen Gehirn« die Rede. Dieses absichtlich vage gehaltene Konzept verwendete Isaac Asimov ab dem Jahr 1939 in seinen Robotergeschichten. Heute hat man bereits deutlich genauere Ideen, wie das Gehirn eines menschenartigen Roboters aussehen könnte. Reisen sind im 24. Jahrhundert offenbar kein Thema mehr. Alle Figuren sind scheinbar mühelos und ohne Zeitverlust zwischen Paris, Okinawa und San Francisco unterwegs. Und trotz einiger haarsträubender Verbrechen lässt sich keine Polizei blicken.
Wie geht es weiter? Laut der Besetzungsliste werden wohl noch andere ehemalige Besatzungsmitglieder der Enterprise wieder auftauchen, und selbst der tot geglaubte Data, in der Eingangssequenz wieder von Brent Spiner gespielt, könnte mit dabei sein. Irgendwie scheint das Wrack eines Borg-Kubus, eines riesigen würfelförmigen Raumschiffs, eine wichtige Rolle zu spielen. Die Borg, eine Rasse von kybernetisch aufgerüsteten Organismen (Cyborgs) mit einem Kollektivbewusstsein, waren einer der hartnäckigsten Gegner der Menschen und anderer Rassen der Galaxis, bevor sie schließlich ausgelöscht wurden. Warten wir es ab. Der Anfang war etwas durchwachsen. Der Plot wirkte teilweise ungeschickt konstruiert, Logiklöcher und wissenschaftliche Fehler trüben das Bild. Aber Patrick Steward spielt auch mit 79 Jahren grandios, die Bildregie ist überzeugend, und die Computeranimationen sind auf der Höhe der Zeit. Dranbleiben lohnt sich deshalb trotzdem.
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