Mathematik: 1+2+3+4+5 ... = -1/12 – Kann das wirklich stimmen?
Eine der bemerkenswertesten Gleichungen der Wissenschaft besagt, dass der Summe aller natürlichen Zahlen – die Summe von 1, 2, 3 und so weiter bis ins Unendliche – der Wert -1/12 zugewiesen werden. Das ist kein Witz und spielt sogar in der Physik eine Rolle. Wie aber kann die Gleichung stimmen?
Die beiden Mathematiker in dem sehenswerten Clip aus der Numberphile-Serie von Brady Haran führen derart anschaulich vor, wie man zu diesem Ergebnis kommt, dass man sich ihrer Überzeugungskraft kaum erwehren kann. Und doch: Nicht wenigen anderen Mathematikern dürften dabei die Haare zu Berge stehen.
Worum also geht es, wenn man etwas tiefer in die Materie einsteigt als das Video? Die Summe von 1, 2, 3 bis unendlich ist eine divergente Reihe: Mit jedem Summanden wird sie größer und größer, und nie herrscht Mangel an weiteren Summanden.
Sobald eine solche Reihe in einer Rechnung auftaucht, hindert sie Mathematiker und Physiker am Weiterrechnen. Im 18. beziehungsweise 19. Jahrhundert gingen Leonhard Euler und Bernhard Riemann das Problem divergenter Reihen darum an, und zwar durch den Kunstgriff der "analytischen Fortsetzung". Trickreich definierten sie neue Reihen, die für manche Werte konvergent sind – also trotz unendlich vieler Summanden nicht unendlich groß werden, sondern einen definierten Grenzwert erreichen. Für andere Werte dagegen sind ihre Glieder gerade die Terme der ursprünglichen divergenten Summe.
Eine dieser neuen Reihen ist definiert als die Summe 1 + 1 / 2s + 1 / 3s + ..., wobei s eine so genannte komplexe Zahl ist. Für bestimmte Werte von s ist sie identisch mit der (auch ansonsten bemerkenswerten) Riemann'schen Zeta-Funktion (so ist die Zeta-Funktion sogar definiert). Der Clou: Diese Funktion hat auch dort – nämlich bei s = -1 – einen eindeutig bestimmten Wert, wo die zugehörige Reihe identisch mit der Summe von 1, 2, 3 ... ist. Und zwar den Wert -1/12.
Das Ergebnis widerspricht zwar weiterhin unserem gesunden Menschenverstand. Doch davon brauchen wir uns nicht beeindrucken zu lassen: Auch bei Mathematikern sorgen divergente Reihen für Kopfzerbrechen – unendliche Zahlen sind eben kaum zu fassen.
Der Kunstgriff von Riemann und Euler ist jedenfalls nicht nur mathematisch zulässig, sondern erweist sich auch als nützlich in der Praxis. Die Summe 1 + 2 + 3 + ... taucht zum Beispiel in der mathematischen Beschreibung des Casimir-Effekts auf (bei dem es um die gegenseitige Anziehung zweier Metallplatten im Vakuum geht) oder in der Stringtheorie. Ersetzt man sie dort durch den Wert -1/12, erhält man physikalisch vernünftige Ergebnisse.
Trotzdem besitzt die Reihe 1 + 2 + 3 + ... keinen berechenbaren Wert, sie wächst mit jedem Summanden einfach weiter ins Unendliche. Man kann ihr mit einem Verfahren wie dem von Riemann und Euler aber einen Wert zuweisen. Und wenn sich zeigt, dass man man mit diesem Wert gut fährt, dann sollte man dabei bleiben. Das ist mathematisches Alltagsgeschäft: Ob mathematische Gleichungen – wie klug, elegant oder zwingend sie einem auch immer erscheinen mögen – tatsächlich etwas über die physikalische Welt aussagen, erfährt man immer erst im physikalischen Experiment.
Der ganz konkrete Trick aus dem Video ist übrigens mathematisch verboten, auch wenn er zum selben Ergebnis wie der Weg von Riemann und Euler führt. Denn unendliche Summen darf man nicht einfach unbedarft addieren. Physiker tun das manchmal trotzdem – aber wenn sich ihr Ergebnis schließlich auch mathematisch beweisen lässt, sind alle zufrieden. Ein spannendes Video und eine schöne Einführung in den Umgang mit divergenten Reihen.
Anmerkung der Redaktion: Ein aufmerksamer Leser wies uns darauf hin, dass Leonhard Euler selbstverständlich im 18. Jahrhundert lebte; nicht im 19. Wir haben den Fehler im Text korrigiert.
Schreiben Sie uns!
4 Beiträge anzeigen