Sciencefiction: Die überholte Utopie
Amazons Utopia-Serie ist das US-Remake einer britischen Fernsehserie von 2013. Die Handlung ist in die USA ausgewandert, und ein neuer Schurke ergänzt den Cast. Die Geheimgesellschaft heißt jetzt »The Harvest« statt »The Network«. Ursprünglich wollte HBO das Remake herausbringen, aber die Produktion kam nicht zu Stande. 2018 übernahm Amazon das Projekt. Gillian Flynn schrieb die Adaptation der britischen Serie. Das weckte einige Erwartungen, denn die Autorin ist für ihre Thriller »Sharp Objects« und »Gone Girl« international bekannt. Sie erklärte, sie habe den Plot wie einen Paranoia-Krimi aus den Siebzigerjahren gestaltet.
Der Anfang ist eher konventionell: Ein junges Paar findet in einem geerbten Haus das Manuskript einer Graphic Novel mit dem Titel »Utopia«, die Fortsetzung einer Reihe von Heften mit dem Namen »Dystopia«. Nach kurzer Suche im Internet stellen sie fest, dass sich eine Fangruppe darum geschart hat. Also beschließen sie, die Mappe mit den Zeichnungen auf der (fiktiven) Fringecon, einem Treffen von Comic-Liebhabern, meistbietend zu verkaufen. Fünf Nerds, die sich bisher nur aus dem Internet kennen, verabreden sich, um das Manuskript in Augenschein zu nehmen. »Dystopia« erzählt eine finstere Geschichte. Ein Schurke mit dem Namen Mr. Rabbit – gezeichnet als Mensch mit Kaninchenkopf – nimmt die kleine Tochter eines Wissenschaftlers als Geisel, damit ihr Vater eine Reihe von tödlichen Viren für ihn herstellt. Mr. Rabbit führt eine sektenartige Organisation namens The Harvest (Die Ernte). Sie setzt die Viren an unterschiedlichen Orten der Welt frei, wo sie tödliche Krankheiten auslösen. Vater und Tochter können irgendwann entkommen, aber The Harvest fängt den Vater wieder ein. Die Tochter ist seitdem auf der Flucht und nimmt den Namen Jessica Hyde an.
Das Manuskript ist schnell verkauft – zu einem fantastischen Preis. Wenige Stunden später sind die Verkäufer und alle Interessenten tot, nur die fünf Nerds können vorläufig entkommen. Einer von ihnen hat es geschafft, das Manuskript an sich zu bringen. Eine junge Frau betritt die Szene und stellt sich als Jessica Hyde vor. Auch The Harvest erweist sich als gefährlich real. Ihr Chef ist der charismatische Entrepreneur Kevin Christie. Seine milliardenschwere Firma ChristieBio dient ihm nur als Fassade für seine größenwahnsinnigen Pläne. Die Viren waren nur ein Probelauf. Christie fürchtet, das »Utopia«-Manuskript könnte ihn auffliegen lassen, und weist seine Schergen an, es mit allen Mitteln zu beschaffen. The Harvest besteht zum beträchtlichen Teil aus Kindern, die er geraubt hat und seitdem in seinem Sinne drillt. Einige sind inzwischen erwachsen und arbeiten für ihn. Jeden Tag fragt er sie am Esstisch: »Was hast du getan, um deinen Platz auf dieser übervollen Welt zu verdienen?« Christie steht im Verdacht, mit dem Ausbruch einer für Kinder tödlichen Grippeepidemie zu tun zu haben, was er natürlich entrüstet von sich weist. In Wahrheit ist die Viruskrankheit Dreh- und Angelpunkt seiner finsteren Pläne.
Die Serie erzählt eine zusammenhängende Geschichte voller Wendungen und Spitzkehren – wer das mag, sollte sechs Stunden Bingewatching einplanen. Die immer wieder ins Bild gesetzten, ausdrucksvollen Zeichnungen tragen viel zur Atmosphäre bei. Unter den Schauspielern ragt John Cusack heraus. Er spielt den charismatischen Kevin Christie nicht als Jekyll/Hyde, sondern als einheitliche Persönlichkeit – was umso unheimlicher wirkt. Christie folgt unbeirrbar seiner großen Vision. Seine Firma führt er wie eine Sekte und seine Sekte wie eine Firma. Gut und Böse bedeuten ihm nichts. Das Ziel ist der Weg.
Das alles wiegt aber die Schwächen der Serie nicht auf. Der Plot holpert enorm. Man könnte fast den Eindruck bekommen, hier sei ein unfertiges Drehbuch hastig abgenudelt worden. Überall bleiben lose Fäden liegen, Wendungen werden gewaltsam herbeigezerrt, und die Löcher in der Logik reichen fast für eine eigene Geschichte. In Corona-Zeiten sollte jede Serie eigentlich sorgfältig darauf achten, den Ablauf von Epidemien, die Reaktion darauf sowie die Behandlung annähernd richtig darzustellen. Das misslingt der Serie auf geradezu peinliche Weise. Die Krankheit soll für Kinder absolut tödlich sein, aber niemand bemüht sich darum, den Ursprung der Infektionsketten zu finden. Im Fernsehen liest eine gleichgültige Sprecherin die Nachricht über die Ausbrüche vor. Es gibt keinen Lockdown, keine Maskenpflicht, eigentlich überhaupt keine öffentliche Reaktion. Die kranken Kinder liegen auf einem Sportplatz in Gummizelten. Keine Intensivbehandlung, keine Angehörigen, nur Frauen und Männer in ABC-Schutzanzügen stapfen bedeutsam durchs Bild. Und die Leichensäcke stapeln sich.
Wie wir inzwischen alle wissen, dauert es mehr als ein Jahr, um einen Impfstoff zu entwickeln. In der Serie zaubert ihn ein verkannter Wissenschaftler einfach aus dem Ärmel. Ein einziger Fall einer – vorgetäuschten – Heilung soll genügen, um eine Zulassung dafür zu bekommen. Nur ist eine Impfung kein Heilmittel für eine bereits ausgebrochene Viruserkrankung. Sie regt den Körper dazu an, Antikörper zu entwickeln, damit er in der Folge nicht krank wird. Und selbst wenn ein experimentelles Mittel dem Präsidenten der USA bei der Genesung hilft, wird es nicht sofort zugelassen. Gut, der Dreh war 2019 abgeschlossen, doch seitdem hat die Wirklichkeit die Utopie überholt.
Auf der Habenseite des Films steht das grandiose Spiel von John Cusack und der rasante serpentinische Plot. Das gleicht aber die löchrige Geschichte und die vielen Fehler nicht aus. Der Gesamteindruck bleibt negativ. In Deutschland läuft die Serie ab Freitag, 30.10.
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