Astronomie: Einstein im Gummituch
Die (englischsprachigen) Videos der dreiteiligen Gravity-Ink.-Serie sind, wie die eine Hälfte des Wortspiels im Namen andeutet, quasi-live gezeichnet. Diesen Stil von Internetvideo, den ich immer als sehr ansprechend empfinde, haben erfolgreiche Webserien wie MinutePhysics auch im Bereich der Wissenschaftsvideos bekannt gemacht. Dabei wird der Sprechtext durch zeitgeraffte Zeichnungen unterstützt: Die im Video sichtbare Hand des Zeichners oder der Zeichnerin wirft die zum Verständnis nötigen Illustrationen direkt auf's gefilmte Papier.
Die drei kurzen Episoden (hier geht es zu Episode 2 und 3) nehmen sich zunächst Einsteins Gravitationstheorie vor (von der Allgemeinen Relativitätstheorie bis hin zu Gravitationswellen), um anschließend in die Grundlagen der Gravitationswellenastronomie einzuführen und im dritten Teil schließlich über die Versuche zu berichten, Gravitationswellen auch tatsächlich nachzuweisen.
Folge 1 zur Gravitationstheorie ist gut produziert, wiederholt jedoch das ungeeignete (aber zugegeben: weit verbreitete) Bild vom Gummituch, um den Effekt der Gravitation zu veranschaulichen. Die Erde (hier eine gezeichnete Scheibe) liegt auf dem Gummituch und krümmt es durch ihr Gewicht nach unten; dadurch rutschen Körper (hier ein gezeichneter Apfel) entlang des Gummituchs abwärts und auf die Erde zu. Voilà: So funktioniert Gravitationsanziehung. Das Gummituch stellt die Raumzeit dar, und sobald diese durch eine Masse verzerrt wird, kommt Schwerkraft ins Spiel.
Dieses Bild gibt zwar anschaulich wieder, dass die Erde und auch jede andere Masse offenbar irgendetwas in ihrer Umgebung verformt und dass über diese Verformung die Gravitation vermittelt wird. Die Sprecherin redet auch extra und korrekterweise davon, dass hier die Raumzeit verzerrt würde (bei Verwendung derselben Analogie andernorts wird gelegentlich behauptet, dass nur "der Raum" verzerrt wird, was eine weitere Fehlerebene ins Spiel bringt). Soweit, so gut. Aus meiner Sicht birgt dieses Modell aber zu viele Fallen.
Wer näher über die Analogie nachdenkt, stolpert zwangsläufig darüber, dass sie in gewisser Weise Gravitation durch Gravitation erklärt. Dass der Apfel im Gummituchmodell zur Erde fällt, kommt schließlich nur durch die Schwerkraft zustande – durch die echte Schwerkraft, die um uns herum wirkt und eben auch den Apfel entlang des Gummituchs nach unten zieht. Schwerkraft soll im Modell aber doch erst hervorgebracht werden, nämlich durch die Verzerrung der Raumzeit, also des Gummituchs!
Diese Verquickung von wirklicher und modellierter Schwerkraft (ohne die das Modell zudem gar nicht funktioniert!) ist ziemlich verwirrend. Als sekundäres Problem des Modells kommt hinzu, dass es die Raumgeometrie betont, während man die Alltagsgravitation um uns herum in Wirklichkeit vor allem als Verzerrung der Zeit – und eben nicht des Raums – verstehen muss. Beides sind für mich Gründe, auf dieses Bild lieber zu verzichten; es schadet mehr, als dass es nützt.
Von der Wahl des Gummituch-Modells abgesehen finde ich die Episode sehr schön gemacht, zumal sie die Möglichkeiten des Mediums gut nutzt. Zum Beispiel setzt sie zusätzlich zur Zeichnung auch Post-Its ein: Betrachtet der Sprecher anstatt von drei Raumdimensionen zur Vereinfachung nur zwei oder eine, werden die entsprechenden Raumpfeile einfach live "weggeschnitten".
In Folge 2 geht es dann um die Zukunft der Astronomie, und damit ist in diesem Zusammenhang natürlich gemeint: um die Möglichkeiten, zukünftig (und das heißt: ab einem unbekannten Zeitpunkt in den kommenden Jahren) Gravitationswellen aus dem Weltall zu empfangen. Das wäre ein großer Schritt für die Astronomen. Ihrem üblichen Informationsträger, nämlich der uns aus dem Kosmos erreichenden elektromagnetischen Strahlung, könnten sie so einen weiteren an die Seite stellen, der ganz anders und in einiger Hinsicht komplementär ist: winzige Störungen in der Raumzeitgeometrie, wie sie irgendwo im Universum entstehen, sich dann mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten und eines Tages auch die Erde erreichen, wo wir sie hoffentlich messen können.
Folge 3, "The Gravitational Universe", nimmt sich dann einige der astronomischen Systeme vor, von denen man hoffen kann, dass sie sich anhand der von ihnen ausgesandten Gravitationswellen untersuchen lassen, zum Beispiel miteinander verschmelzende Schwarze Löcher. Zuvor gibt sie eine schnelle Einführung in die Nachweistechniken sogenannter interferometrischer Detektoren: Solche Instrumente fahnden vom Erdboden aus nach Gravitationswellen, bislang allerdings nicht erfolgreich.
Apropos "bislang nicht erfolgreich": Dieser nicht ganz unwichtige Umstand wird nicht so deutlich benannt, wie es (derzeit noch) wünschenswert wäre. Wenn die Sprecherin sagt, solche Detektoren könnten höherfrequente Gravitationswellen etwa von Supernova-Explosionen nachweisen, dann fehlt dabei leider das entscheidende "im Prinzip" – denn praktisch ist der Nachweis bislang eben noch nicht gelungen. Es ist zwar möglich (und durchaus zu hoffen), dass die Wirklichkeit die Videos in dieser Hinsicht in nicht allzu langer Zeit einholt, aber gegenwärtig sind wir einfach noch nicht so weit.
Als letztes präsentiert Gravity Ink. dann die Möglichkeit, einen solchen interferometrischen Detektor auch in den Weltraum zu schießen. Während die Detektorspezialisten auf der Erde damit kämpfen, dass ihre Messsignale durch niederfrequente Störungen überlagert werden, wird man im Erdorbit von so etwas gar nicht erst belästigt. Darum wird seit langem die (in den letzten Jahren etwas abgespeckte) LISA-Mission geplant, deren wissenschaftlichen Nutzen das Video ganz zum Schluss vorstellt. Als Outreach-Werkzeug für LISA – beziehungsweise eLISA, wie das Projekt mittlerweile heißt – sind die drei Episoden denn auch produziert worden.
Insgesamt eine kurzweilige, nett produzierte Einführung in die Gravitationswellenastronomie. Allerdings werden sich einige Zuschauer zu Recht fragen – dieses Thema hatten wir auch bei meiner letzten Filmbesprechung schon diskutiert –, warum ein so einfach synchronisierbarer Film nicht auch mit deutscher Tonspur auf YouTube steht.
[Offenlegung: Die Filme wurden von einem Teilinstitut des Albert-Einstein-Instituts (Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik) produziert, wo ich vor etwas mehr als zehn Jahren meine Doktorarbeit gemacht und anschließend in der wissenschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit gearbeitet habe – an einigen Stellen auch für die LISA-Mission.]
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