Filmkritik: "Der Mann aus dem Eis": Ötzi im Kino: Die Rache des Eismanns
Im Jahr 1991 fanden Bergwanderer am Tisenjoch, das die Grenze zwischen Italien und Österreich bildet, einen mumifizierten Toten. Bei der von Gerichtsmedizinern durchgeführten Untersuchung stellte sich heraus, dass der Mann bereits seit mehr als 5200 Jahren tot war – gestorben, wie man heute weiß, wahrscheinlich an einem aus großer Entfernung abgegebenen Pfeilschuss, der ihn von hinten in die Schulter traf.
Unter dem Titel "Der Mann aus dem Eis" hat der deutsche Regisseur Felix Randau Ötzis Leben nun verfilmt – und versprochen, sich dabei "so weit wie irgend möglich" an wissenschaftliche Fakten zu halten.
Diese sind zahlreich. Große Teile der Kleidung und Ausrüstung von Ötzi konnten geborgen und in jahrelanger Arbeit rekonstruiert werden. Seine Axt mit Kupferkopf etwa muss damals sehr kostbar gewesen sein – sie diente als Waffe wie auch als Werkzeug und erwies sich in modernen Experimenten als sehr funktionell.
Wertvolle Erkenntnisse über das Leben des Alpenbewohners der Kupferzeit ergaben auch die medizinischen Untersuchungen. Ötzi wurde rund 46 Jahre alt und hatte auf der Südseite der Alpen gelebt – wohl häufig in verrauchten Hütten, wie seine geschwärzte Lunge verrät. Er litt unter schwerer Arteriosklerose, besaß gut entwickelte Muskeln und hatte in den letzten sechs Monaten vor seinem Tod drei schwere Krankheitsepisoden überstanden. Auch war er mit einer aggressiven Variante des Magenkeims Helicobacter pylori infiziert und laktoseintolerant. Letzteres ist auch kein Wunder, da die Verträglichkeit von Milch im Erwachsenenalter erst mit dem Beginn der Viehzucht auftrat (siehe hierzu diese SciViews-Rezension).
Vom liebevollen Familienvater zum unerbittlichen Menschenjäger
Doch offenbar fühlte er sich fit und motiviert genug, um eine Alpenüberquerung zu wagen. Folgt man Randau, lebte der friedliche Kelab alias Ötzi (gespielt von Jürgen Vogel) mit seiner kleinen Sippe in den Südtiroler Alpen. Eines Tages – er selbst ist gerade auf der Pirsch – erscheinen Räuber, ermorden seine Angehörigen und stehlen eine heilige Schatulle. Mit verzweifelter Entschlossenheit verfolgt sie Kelab durch die Alpen, um die Morde zu rächen und sein Heiligtum zurückzuholen. Vor malerischem Alpenpanorama wandelt sich Jürgen Vogel in der Folge vom liebevollen Familienvater zum unerbittlichen Menschenjäger, in einer grandiosen und überzeugenden schauspielerischen Leistung.
Über die Kupferzeit verrät der – frei erfundene – Plot hingegen nichts. Er könnte genauso gut im Wilden Westen oder im australischen Outback spielen, in der Gegenwart ebenso wie in ferner Vergangenheit. Immerhin bietet er eine Erklärung dafür, dass es Ötzi in unwirtliche und eisige Berghöhen trieb.
Seine Kultur würde der Eismann im Film allerdings kaum wieder erkennen. Die Wände der – allzu – geräumigen Häuser von Kelabs Sippe bestehen aus Flechtwerk oder groben Brettern, sind aber nicht, wie damals üblich, mit Lehm abgedichtet. Keine der gezeigten Behausungen böte auch nur annähernd Schutz gegen die Kälte. Raum für Nutztiere ist in den Häusern ebenfalls nicht vorgesehen, was den damaligen Gepflogenheiten eher widerspricht. Auch bietet das schmale Tal keinen Raum für den Anbau von Getreide, nicht einmal ein Garten ist zu erkennen. Im Bild ist kurz eine Art Webstuhl zu sehen – doch Männer wie Frauen tragen ausschließlich Leder und Fell.
Kupferzeitmenschen reden offenbar nicht viel
Etliches von dem, was die Wissenschaft längst herausgefunden hat, lässt Randau dagegen aus. Aus welcher Pflanze schneiden Ötzi und seine Sippe die Bögen? (Aus Eibenholz.) Aus welcher die Pfeile? (Aus Exemplaren der Art Viburnum lantana aus der Familie der Moschuskrautgewächse.) Wie richten sie Pfeilspitzen zu? Und wie stellen sie Leder her? Leider versäumt es der Film, auch nur einige dieser Kulturleistungen ins Bild zu setzen.
Und was verrät die Tonspur? Obwohl ihre kognitiven Fähigkeiten sich von den unseren kaum unterschieden haben dürften, reden Kupferzeitmenschen offenbar nicht viel. Zwar ließ Randau für die wenigen Sätze gar eine eigene Sprache entwickeln, angeblich eine Urform des Rätischen. Von dieser bis ins 3. Jahrhundert nach Christus gesprochenen Sprache weiß man aber fast nichts, sie ist lediglich von wenigen kurzen Inschriften bekannt. Selbst über ihre Zuordnung zu einer Sprachfamilie herrscht kein Konsens. Hätte Jürgen Vogel vielleicht einfach deutsch sprechen sollen – statt in einer Sprache, die beim echten Ötzi nur Kopfschütteln hervorgerufen hätte?
Allerdings ist das für den Film auch nicht so wichtig, Vogel und seine Widersacher brüllen weit häufiger als sie reden. Eine verpasste Gelegenheit: "Der Mann aus dem Eis" hätte uns so viel mehr über sich und seine Zeit erzählen können.
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