Landwirtschaft: Wie man zehn Milliarden Menschen ernährt
Vor mehr als 150 000 Jahren erschien die Spezies Homo sapiens auf diesem Planeten. Aber erst vor 215 Jahren überschritt die Anzahl der gleichzeitig lebenden Menschen die Schwelle von einer Milliarde. Zurzeit sind es 7,7 Milliarden, und zwischen 2050 und 2060 werden es – wenn keine weltweite Katastrophe eintritt – mehr als zehn Milliarden sein. In den nächsten 40 Jahren werden die Menschen ebenso viele Nahrungsmitteln verbrauchen wie in den 8000 Jahren zuvor – und die wollen erst einmal erzeugt werden. Der Klimawandel und die Bodendegradation sind dabei nicht gerade hilfreich. Auch Pflanzenkrankheiten wie beispielsweise der berüchtigte Getreideschwarzrost, ein extrem schwer zu bekämpfender Weizenschädling, breiten sich immer weiter aus. Bananen könnten bald komplett von der Speisekarte verschwinden, weil ein Pilz mit dem komplizierten Namen Fusarium oxysporum forma specialis cubense TR4 weltweit die Ernten bedroht.
Das achtminütige Video von Bloomberg gibt keinen kompletten Überblick darüber, wie man die Herausforderungen der Welternährung lösen kann. Das wäre in der kurzen Laufzeit auch nicht möglich. Die Autoren greifen lediglich zwei Projekte heraus, die das Problem von ganz verschiedenen Seiten angehen. Das erste Projekt befasst sich mit der Optimierung der Kulturpflanzen selbst. Es ist an der Universität Wageningen in den Niederlanden angesiedelt. Der nur 39 000 Einwohner zählende Ort am Niederrhein, etwa 35 Kilometer von Kleve entfernt, beherbergt eine der führenden agrarwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen Europas. Mark Aarts, Professor im Labor für Pflanzengenetik, stellt im Video seine Forschungen zur genetisch fixierten Effizienz der Fotosynthese vor. Selbst innerhalb einer einzigen Art findet man eine erhebliche Bandbreite. Schon kleine Änderungen im Erbgut könnten bewirken, dass Pflanzen das Sonnenlicht besser nutzen, schneller wachsen und weniger Dünger benötigen. Bisher konzentriert sich seine Forschung noch auf die Ackerschmalwand(Arabidopsis thaliana), eine kleine einjährige Pflanze, die in den gemäßigten Klimazonen von Europa und Asien relativ häufig vorkommt. Sie wird in der Botanik gerne als Modellorganismus verwendet, weil sie ein vergleichsweise kleines Genom hat, das bereits seit dem Jahr 2000 vollständig sequenziert ist. Sollte es gelingen, auch Kulturpflanzen zu einer effektiveren Fotosynthese zu überreden, käme vielleicht eine zweite grüne Revolution in Gang. Bis dahin werden aber sicher noch einige Jahre ins Land gehen.
Das zweite im Video vorgestellte Projekt verkauft dagegen seine Ernte bereits heute in regionalen Supermärkten. Hier zu Lande können wir das angebaute Gemüse und die Arzneipflanzen allerdings nicht kaufen, denn das Experiment findet in der Provinz Fujian im südöstlichen China statt. In alten Fabrikgebäuden kultivieren die Forscher ihre Pflanzen in quadratmetergroßen flachen Kästen, die in Regalen übereinandergestapelt werden. LED-Leisten an den Regalen sorgen für optimales Licht. Pestizide erübrigen sich, und das Wasser wird weitgehend recycelt. Das Verfahren sorgt zum Beispiel bei Blattsalat für 17 bis 18 ertragreiche Ernten pro Jahr. Im Grunde ist das als »Vertical Farming« oder »Indoor Farming« bekannte Konzept eine Weiterentwicklung des Gewächshauses. Heizung und Licht stammen dabei nicht mehr unbedingt von der Sonne. In der Variante »Urban Farming« werden Nutzpflanzen direkt in der Stadt angebaut, so dass die Produkte auf kurzen Wegen ganz frisch zu den Kunden kommen. Die Idee ist bereits 100 Jahre alt, hat sich aber noch nicht so recht durchgesetzt. Vorläufig ist es einfach noch zu teuer. Die chinesischen Forscher verkaufen ihre Ernten im Moment zum einem mehr als zehnfachen Marktpreis. Li Shaohua vom Institut für Botanik der Chinesischen Akademie der Wissenschaft, der den Versuch in Fujian leitet, ist dennoch davon überzeugt, dass »Indoor Farming« die Zukunft der Landwirtschaft ist. Wenn die Menschen immer mehr Flächen beanspruchen und der landwirtschaftliche Boden weiter degradiert, wäre das durchaus denkbar. Schließlich hat vor 50 Jahren auch noch niemand geglaubt, dass heute der meiste Lachs in deutschen Supermärkten aus norwegischen Fischfarmen stammt.
Die Macher des Bloomberg-Videos überlassen es den Wissenschaftlern selbst, ihre Projekte vorzustellen. Eine Wertung oder Einordnung bleibt aus. Trotzdem ist das kurze Video sehenswert, weil es auf unterhaltsame und verständliche Weise zwei völlig unterschiedliche Ansätze zur Verbesserung der Landwirtschaft präsentiert. Aber wie dringend sind neue Konzepte für die Nahrungsmittelversorgung wirklich? Allen Unkenrufen zum Trotz ist die weltweite Ernährungslage im Moment ziemlich entspannt. Die Ernten der Grundnahrungsmittel Reis und Weizen sind in den letzten Jahren sehr gut ausgefallen, und die Vorräte belaufen sich auf 30 Prozent einer Jahresernte. Das würde nicht gerade für sieben magere Jahre reichen, aber doch für mindestens drei oder vier. Und dabei leisten wir uns noch den Luxus, vom Feld bis zum Teller fast ein Drittel der Nahrungsmittel zu verlieren. Die Wissenschaft hat also noch etwas Zeit, bevor sie neue Lösungen liefern muss. Wenn heute Menschen hungern, liegt das nicht an Missernten, sondern an Kriegen, Armut oder einem Versagen der Politik.
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