Massensterben: Der kalte Hauch des Todes
Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da erschienen auf der Erde binnen weniger Millionen Jahre die Vorfahren aller heutigen Tierstämme. Damit begann vor 541 Millionen Jahren das Erdzeitalter Kambrium, das gut 50 Millionen Jahre später in das Ordovizium überging. Tiere und Pflanzen breiteten sich in allen Tiefen des Meeres aus und begannen, das Land zu erobern. Die Konzentration des Treibhausgases CO2 war etwa 10- bis 15-mal höher als heute, und so herrschten an den Polen angenehm warme Temperaturen, am Äquator hingegen wurde es richtig heiß. Die Erde war eine Wasserwelt, große Teile der Kontinente lagen unter flachen Meeren verborgen. Und dann, am Ende des Ordoviziums, endete die Idylle. Ohne jede Vorwarnung stürzten die Temperaturen ins Bodenlose, der große Südkontinent Gondwanaland verschwand unter einer dicken Eisschicht, der Wasserspiegel der Ozeane fiel so stark, dass aus flachen Meeren festes Land wurde. Dann, nur etwa eine Million Jahre später, schmolz das Eis so plötzlich, wie es gekommen war, und die Warmzeit kehrte zurück. Nahezu alle Lebensräume veränderten sich schlagartig, zweimal in geologisch kurzer Zeit. Das überforderte die Anpassungsfähigkeit zahlreicher Tierarten. Sechs von sieben verschwanden und machten neuen Arten Platz. Bis heute ist nicht klar, welcher Mechanismus den doppelten Klimaumschwung auslöste. Kallie Moore präsentiert auf PBS EONS eine Theorie, die zumindest den abrupten Temperatursturz erklären könnte.
Demnach trugen nicht gewaltige Akteure wie Vulkane, kilometergroße Meteoriten oder eine Gammastrahlen schleudernde Supernova die Schuld, sondern die ersten Landpflanzen. Einige Dutzend Millionen Jahre zuvor hatten sie nämlich begonnen, die Kontinente in feuchten Gegenden mit einer grünen Decke zu überziehen. Sie vermehrten sich durch Sporen, Blüten waren noch nicht entwickelt. Die Fachbezeichnung für diese Pflanzen lautet Kryptogame. Schichten dieser Kryptogamen bilden sich auf Steinen, auf Bäumen und auf Dächern. Sie haben die vielen Jahrmillionen gut überstanden und bedecken heute immer noch 30 Prozent der Landfläche. Sie nehmen große Mengen Kohlendioxid (CO2) auf und zersetzen auf der Suche nach Nährstoffen das Gestein, auf dem sie wohnen. Diese forcierte Verwitterung bindet weiteres CO2. Wenn Regen und Flüsse das zu Staub zerfallene Gestein in die Ozeane spülen, wirkt es dort wie Dünger. Es enthält Phosphor, einen Stoff, den alle Lebewesen zum Wachstum brauchen. Zu viel davon ist nicht gut, denn ein überdüngtes Gewässer neigt zur Eutrophierung, zum übermäßigen Wachstum mit anschließendem Absterben.
Diese Prozesse könnten vor 445 Millionen Jahren genug CO2 aus der Luft geholt haben, um die Temperaturen auf Kaltzeitniveau zu drücken. Die Idee stammt aus einem Paper des britischen Klimaforschers Timothy Lenton, des Direktors des Global Systems Institute der University of Exeter. Er vertritt die so genannte Gaia-Hypothese, nach der Erde und Lebewesen ein gemeinsames, selbstregulierendes komplexes System bilden. Es soll dafür sorgen, dass die Bedingungen für organisches Leben auf der Erde erhalten bleiben. Gelegentliche heftige Ausschläge sind in komplexen Systemen nicht ungewöhnlich und könnten heutzutage auch auftreten. Wenn die Menschen weiterhin die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre erhöhen, wird es auf der Welt nicht einfach gleichmäßig wärmer. Gletscher geraten ins Rutschen, der Permafrostboden taut schlagartig auf, und der Amazonas-Regenwald könnte sich in eine Savanne verwandeln. Lenton untersucht, ob und wie sich das Umkippen kritischer Elemente ankündigt.
Bei Geologen und Paläontologen hat seine Idee zur Ursache des ordovizischen Massenaussterbens keine Resonanz gefunden. Sie weist auch einige deutlich erkennbare Schwächen auf. Lenton stützt seine These, dass kryptogame Schichten die Verwitterung stark beschleunigen, auf ein Laborexperiment. Er blieb aber den Nachweis schuldig, dass sein Versuchsaufbau die Situation im Ordovizium richtig wiedergibt. Die ersten Landpflanzen hatten die Kontinente schon viele Millionen Jahre vor der Kaltzeit erobert, warum sollten sie urplötzlich sehr viel mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre holen?
Kallie Moore stellt Lentons Hypothese mit Hilfe von Fotos und Animationen überzeugend vor, erwähnt jedoch nicht, dass sie keineswegs allgemein anerkannt ist. So entsteht der falsche Eindruck, die Wissenschaft habe sich auf eine Erklärung des ordovizischen Massensterbens geeinigt. Tatsächlich verfolgen die Forscher bis heute mehrere Theorien. Wenn nicht Pflanzen das CO2 aus der Luft geholt haben, welche andere Lösung käme in Frage? Das Kohlendioxid in der Luft stammt zum großen Teil von Vulkanausbrüchen. In der Mitte des Ordoviziums begannen sich die Appalachen zu heben, und dabei verstärkte sich die Vulkantätigkeit in der Region. Der uralte, 2400 Kilometer lange Gebirgsrumpf im Osten des nordamerikanischen Kontinents erreicht heute kaum 2000 Meter Höhe, damals aber ragte er so hoch auf wie der Himalaja. Ein solches Gebirge verwittert schnell und bindet dabei viel Kohlendioxid, das in Form von Verbindungen wie Kalziumkarbonat irgendwann im Meer landet. Gegen Ende des Ordoviziums ließ die Vulkantätigkeit nach, doch die schnelle Verwitterung ging weiter. Während also weniger CO2 nachgeliefert wurde, verschwand es weiterhin im Meer. Der Treibhauseffekt ließ nach, irgendwann kippte das Klima. Kaltzeiten entstehen plötzlich, weil ab einem gewissen Punkt selbstverstärkende Prozesse einsetzen. Aber warum schmolz das Eis schon bald wieder? Das ist weiterhin rätselhaft und bietet ausgiebigen Raum für Spekulationen.
Ein Klimawandel kann offenbar sehr plötzlich eine Eigendynamik entwickeln. Mit der globalen Erwärmung stoßen wir vielleicht schon bald Veränderungen an, die sich jeder Kontrolle entziehen. Ein Experiment für Zauberlehrlinge, das wir unbedingt unterlassen sollten.
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