Tunneleffekt : Mit dem »Kopf« durch die Wand
Vielleicht sollte man vorsichtshalber noch schnell einen Helm aufsetzen, aber dann kann's schon losgehen. Ein paar schnelle Schritte auf die Hauswand zu, die Nackenmuskeln angespannt … und schon liegt man mit brummendem Schädel am Boden. Ausgang des Experiments: negativ. Aber war es wirklich völlig sinnlos, es zu versuchen?
Gemäß den Gesetzen der Quantenmechanik war es das nicht. Denn der Tunneleffekt besagt, dass für jedes Atom im Körper der »Versuchsperson« die Wahrscheinlichkeit, den Widerstand der Atome in der Wand zu überwinden, größer ist als null. Sie ist zwar nur ein bisschen größer, und die enorme Anzahl der beteiligten Atome verringert sie nochmals deutlich. Doch unterm Strich bleibt eine endliche Wahrscheinlichkeit (mit einer astronomischen Anzahl von Nullen hinter dem Komma) übrig.
Nun wird mit ziemlicher Gewissheit kein Mensch jemals das Tunneln eines makroskopischen Objekts beobachten können. Wie das Video auf dem YouTube-Kanal 100SekundenPhysik anhand übersichtlicher und schön strukturierter Animationen veranschaulicht, ist der Tunneleffekt in der mikroskopischen Welt der Quanten aber allgegenwärtig.
Im Zentrum steht dabei die Überwindung so genannter Potenzialbarrieren. Im eingangs erwähnten »Experiment« wäre das die abstoßende Wirkung der Elektronenhüllen der Atome im Körper und in der Wand. Reicht die Energie, also in diesem Fall die Geschwindigkeit, mit der sie sich aufeinander zubewegen, nicht aus, um diese Barriere zu überwinden, prallen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit voneinander ab. Das lässt sich am besten mit einer Murmel veranschaulichen, die man mit einer gewissen Geschwindigkeit auf einen Hügel zurollen lässt. Nur wenn man ihr genug Schwung mitgibt, um die Spitze des Hügels zu erreichen, kann sie das Hindernis auch überwinden. Ist sie zu langsam, wird sie den Hügel nur ein Stück weit hochrollen und dann umkehren.
Quantenmechanisch betrachtet bleibt aber auch bei zu geringer Energie immer eine kleine Restwahrscheinlichkeit, dass die Barriere überwunden wird. Denn in der Quantenmechanik werden Objekte nie als reine Teilchen betrachtet. Sie sind gleichzeitig auch immer Wellen. Und die Amplitude, die Schwingungsbreite, dieser Welle ist ein Maß für die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens. Je größer die Amplitude an einem bestimmten Ort ist, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, es bei einer Messung genau dort vorzufinden. So gesehen bewegt sich also eine Wahrscheinlichkeitswelle auf das Hindernis zu, die, falls sie mit genügend Energie ausgestattet ist, einfach darüber hinwegschwappt und sich auf der anderen Seite weiter ausbreitet. Hat sie jedoch zu wenig Energie, kommt der Tunneleffekt ins Spiel.
Die Welle kann am Ort der Barriere eigentlich nicht existieren und kann sich deshalb dort nicht weiter ausbreiten. Doch ihre Amplitude sinkt hinter der Grenzfläche nicht direkt auf null ab, vielmehr klingt sie exponentiell ab. Dieses als Evaneszenz bezeichnete Phänomen ist allgemein gültig und kann beispielsweise auch bei Schallwellen beobachtet werden. Für die Wahrscheinlichkeitswelle bedeutet das zwar einerseits, dass ihre Amplitude sehr schnell sehr stark abnimmt. Andererseits aber eben auch, dass sie nicht völlig verschwindet und auch am Ende der Barriere immer noch ein bisschen von ihr übrig ist. Und genau dieses bisschen stellt die Wahrscheinlichkeit dar, mit der das Teilchen dann eben doch auf der anderen Seite auftauchen kann.
Dieses Bild vom Durchdringen der Potenzialbarriere in Form einer Welle wird im Video ausgespart. Stattdessen ist die Rede davon, dass der Aufenthaltsort des Teilchens grundsätzlich nur unscharf bestimmt ist und es somit jederzeit auch jenseits der Barriere auftauchen kann. Da die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen an irgendeinem Ort im Raum zu finden, aber durch die Amplitude der Wellenfunktion beschrieben wird, die im Inneren der Barriere exponentiell abfällt, laufen beide Sichtweisen im Grunde auf das Gleiche hinaus: In der Welt der Quanten können Teilchen an Orte gelangen, zu denen sie gemäß der klassischen Physik eigentlich keinen Zugang hätten.
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