Entropie: Mit dem Zeitpfeil ins Schwarze getroffen
Für den erstaunlichen Umstand, dass die Zeit eine bevorzugte Richtung hat, dass sie sich nämlich stets von der Vergangenheit in die Zukunft bewegt, verfügen die Physiker nach wie vor über keine vollständige Erklärung. Die grundlegenden physikalischen Gesetze jedenfalls behandeln beide möglichen Zeitrichtungen – die gewohnte ebenso wie die Gegenrichtung von der Zukunft in die Vergangenheit – fast immer gleich.
Das können wir uns mühelos selbst klar machen. Sehen wir etwa einen Film, der die Reaktionen von Elementarteilchen zeigt oder einfache Vorgänge wie das Kreisen von Planeten um Sterne, bleibt unentscheidbar, ob der Film vielleicht im Rückwärtslauf abgespielt wird. Wir hätten in beiden Fällen den Eindruck, dass die physikalischen Gesetze in vollem Umfang gelten.
Im Alltag, in dem wir es typischerweise mit makroskopischen Objekten zu tun haben, die aus unübersichtlich vielen Teilchen bestehen, ist das anders. Ob man uns eine gefilmte Alltagsszene vorwärts oder rückwärts vorspielt, würden wir meist merken: Ein Ballon platzt, entsteht aber niemals spontan aus Fetzen seiner Hülle; Flüssigkeiten vermischen sich, aber entmischen sich nicht spontan; ein zu Boden geworfenes Objekt zersplittert, würde sich aber nie von selbst aus Einzelteilen zusammenfügen und anschließend in die Luft springen. Offenbar gibt es bei derlei Vorgängen eben doch eine bevorzugte Zeitrichtung, einen Zeitpfeil.
Wie passt beides zusammen? Nach heutiger physikalischer Sicht spielt die Statistik ungeordneter Vorgänge die entscheidende Rolle. Dass beispielsweise ein Ei auf dem Boden zerspringt, ist ungleich wahrscheinlicher, als dass sich ein zersprungenes Ei spontan zusammenfügt. Für ersteren Vorgang gibt es schließlich eine beachtliche Anzahl von Möglichkeiten (die alle mit mehr oder weniger großen Sauereien auf dem Boden enden). Damit der zweite stattfindet, müssen jedoch unübersichtlich viele Teilchen jeweils genau die richtige Energie aufnehmen und genau in der richtigen Weise Impuls übertragen bekommen, damit sie sich am Ende zusammenfügen – das ist so unwahrscheinlich, dass wir dies zu unseren Lebzeiten nicht erleben dürften. Nicht einmal die Menschheit als Ganzes kann erwarten, einen solchen Vorgang im Verlauf ihrer Geschichte einmal zu beobachten.
Der Zeitpfeil hat also etwas mit Unordnung zu tun, mit dem Umstand, dass physikalische Vorgänge eher zu einem großen Durcheinander führen als dass sie Dinge in Ordnung bringen. Die Physiker haben sogar ein exakt definiertes Maß für eine solche Unordnung eingeführt, die so genannte Entropie.
Diese Erklärung bringt die Physiker im Verständnis gehörig voran, wirft aber auch selbst wieder Fragen auf. Wenn die Entropie mit der Zeit immer weiter zunimmt, dann muss sie anfangs – in unseren kosmologischen Modellen: beim Urknall – sehr gering gewesen sein. Wie kam dieser geordnete Anfang zustande? Und würde der universelle Hang zur Unordnung nicht auch viel eher erwarten lassen, dass das, was wir als unsere Verstandestätigkeit betrachten, zufällige Fluktuationen in einem fast strukturlosen Universum sind? Denen – wiederum ganz zufällig – vorgegaukelt wird, dass der Kosmos eben doch in der von der Wissenschaft üblicherweise angenommenen Weise strukturiert ist?
Mit der Frage der Entropie beschäftigt sich nun ein beeindruckendes und absolut sehenswertes Musikvideo des Physikers Tim Blais, der auch schon die Stringtheorie vertonte. Auf gewohnt originelle Weise singt er vom entropischen Zeitpfeil, vom "Arrow of Entropic Time". Das Grundkonzept ist das seiner anderen Videos auf dem YouTube-Kanal A Capella Science: Blais singt ohne Instrumentenbegleitung, mehrstimmig mit sich selbst, getrennt aufgenommen und dann in Ton wie im Bild am Computer zusammengeschnitten. Die Lieder selbst sind umgetextete Coverversionen, hier die von Billy Joels For the longest time (1983).
Die Pointe: In dem Musikvideo zeigt der Zeitpfeil in genau die falsche Richtung. Anders gesagt: Wir sehen das, was Blais filmte, schlicht rückwärts. Während er singend die Grundlagen erklärt, geschieht alles in ungewohnter Weise: Aus einem Feuer fügt sich das Tuch mit der Aufschrift "Time" zusammen, Flüssigkeiten entmischen sich, Objekte stapeln sich geordnet aufeinander, Wasser erhebt sich von fünf parallelen Blais-Versionen, um sich mit Plastikfetzen zu wassergefüllten Luftballons zu vereinigen und vieles mehr.
Wie geht das? In einem Making Of beschreibt Blais, wie er stundenlang lernte, die verschiedenen Stimmen seines Billy-Joel-Covers rückwärts zu singen, damit sie sich im rückwärts abgespielten Video richtig anhören.
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