Raumfahrt: Ofenrohre im All
Wie gewaltig Raketen sind, davon hat man eigentlich bloß eine ungefähre Vorstellung. Sieht man sie im Fernsehen oder im Internet nur auf der Startplattform, ist ihre Größe schwer einzuschätzen. Ein unterhaltsames Video des amerikanischen Videokünstlers Wren Weichman zeigt äußerst anschaulich, wie groß heutige Trägerraketen tatsächlich sind. Zu diesem Zweck hat Weichman eine Falcon 9 von Elon Musks Firma SpaceX in einem vom kalifornischen Studio »The Corridor Crew« produzierten Video scheinbar in eine Stadt gestellt. Mit ihren 71 Metern überragt sie knapp die Türme der Kirche Notre-Dame in Paris. Selbst die filigran erscheinenden Landebeine der ersten Stufe wirken aus der Nähe beeindruckend massiv. Das Video gibt ihre Höhe im ausgeklappten Zustand mit 8,80 Meter an, mehr als doppelt so hoch wie ein Möbelwagen. Immerhin müssen sie die Landung einer Raketenstufe von der Größe eines zwölfstöckigen Hauses (42,6 Meter) sicher abfangen.
Aber müssen Raketen überhaupt aussehen wie riesige Ofenrohre? Das Spaceshuttle hatte doch gezeigt, dass auch eine Art Weltraumflugzeug möglich ist. Allerdings hat sich das Spaceshuttle bei genauerer Betrachtung als Irrweg erwiesen, wenn es auch immerhin 30 Jahre lang gute Dienste geleistet hat. Ein Hybrid aus Flugzeug und Rakete vereinigt die Probleme beider Systeme, ohne dass sich ihre Vorteile addieren. Flugzeuge und Raketen fliegen Menschen und Fracht um die Welt, aber auf ganz verschiedene Weise.
Um eine Nutzlast in eine Erdumlaufbahn zu bringen, braucht man enorm viel Treibstoff. Die europäische Trägerrakete Ariane 5 ES transportiert bei einem Gesamtgewicht von 775 Tonnen gerade mal 20 Tonnen Fracht, das sind rund 2,6 Prozent des Gesamtgewichts! 660 Tonnen wiegt allein der Treibstoff. Zum Vergleich: Eine Boeing 747-400F, eines der beliebtesten Langstrecken-Frachtflugzeuge, hat ein maximales Startgewicht von 397 Tonnen und lädt bis zu 112 Tonnen Fracht, also etwa 28 Prozent der Gesamtmasse.
Aber ein Flugzeug hat es auch leichter. Es fliegt mit gemütlichen 800 km/h, und für den Auftrieb sorgt die Luft unter den Flügeln. Eine Rakete muss ihre Nutzlast auf mindestens 29 000 km/h beschleunigen. Das stellt hohe Anforderungen an das Material. Bereits bei 3000 km/h, also einem Zehntel der Endgeschwindigkeit, heizt die Luftreibung Teile der Rakete sehr schnell auf. Das schnellste je in Serie gebaute Flugzeug, die amerikanische SR-71, flog in 24 km Höhe mit bis zu 3500 km/h. Die Hülle erreichte dabei Temperaturen von 230 bis 510 Grad.
Eine Rakete ist also gut beraten, wenn sie die dichte untere Atmosphäre möglichst schnell hinter sich lässt. Deshalb hebt sie senkrecht ab. Eine nadelspitze Form verringert den Luftwiderstand. Erst in großer Höhe weicht sie deutlich von der Senkrechten ab, fliegt einen Bogen und beschleunigt zum Schluss die Nutzlast weitgehend parallel zur Erdoberfläche. Transportiert sie einen Satelliten, reicht es nicht, ihn einfach in die Höhe zu tragen, er würde wieder zurückfallen. Das wäre fatal, schließlich soll er die Erde umkreisen. Also muss ihn die Trägerrakete erst über die Atmosphäre heben und dann in eine kreisförmige oder elliptische Bahn schießen. Weil die Rakete die untere Atmosphäre so schnell durchquert, muss sie den Sauerstoff für die Verbrennung des Treibstoffs wohl oder übel mitschleppen, was das Gewicht der Nutzlast weiter verringert. Ein Flugzeug hingegen holt sich seinen Sauerstoff ganz einfach aus der Umgebungsluft.
Der heilige Gral der Raketentechnik wäre ein Triebwerk, das beim Start den Sauerstoff aus der Luft entnimmt und damit auf fünf- bis zehnfache Schallgeschwindigkeit beschleunigt, bevor es auf den mitgebrachten Vorrat umschaltet. Leider unterscheiden sich die Strahltriebwerke eines Flugzeugs grundlegend von Raketenmotoren. Sie in einer Konstruktion zu vereinen, wäre schon ein Geniestreich. Die britische Firma Reaction Engines behauptet seit einigen Jahren, diesen heiligen Gral gefunden zu haben. Ihr Sabre-Triebwerk soll als luftatmendes Triebwerk wie bei einem Flugzeug starten und in 28 km Höhe bei rund 5500 km/h zum Raketenmotor mutieren. Das damit ausgestattete Weltraumflugzeug Skylon soll waagerecht auf normalen Flughäfen starten und bis in den Orbit fliegen, ohne zwischendurch Ballast abzuwerfen.
Reaction Engines erwartet voller Optimismus, dass die Nutzlast mehr als vier Prozent der Gesamtmasse, und damit also mehr als bislang möglich, ausmachen soll. Noch ist das allerdings Zukunftsmusik, denn bisher hat Reaction Engines nur genug Geld auftreiben können, um einen Teststand zu bauen. Im Jahr 2020 sollen dort die Versuche mit einem verkleinerten Sabre-Triebwerk starten. Aber selbst wenn das Triebwerk einwandfrei funktioniert, fehlt immer noch das passende Fluggerät. Konstruktion und Erprobung eines Weltraumflugzeugs werden jedoch viele Milliarden Euro verschlingen. Und so viel Geld will bislang niemand auf den Erfolg des Konzepts wetten. Inzwischen scheint sich Reaction Engines auch von dem ursprünglichen Konzept der Raumfähre Skylon zu verabschieden. Auf ihrem Webportal ist es nicht mehr zu finden, und auf der Luftfahrtschau im britischen Farnborough im Juli 2018 stellte das Unternehmen gleich mehrere neue Entwürfe für Weltraumflugzeuge vor. In den nächsten zehn Jahren wird aber ganz sicher keines davon abheben.
Vorläufig bleiben Astronauten und Satellitenbetreiber also auf die hoch aufragenden, konventionellen Raketen angewiesen, deren Ausmaße das Video so anschaulich in Szene setzt.
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