Medienethik: Die Suche nach dem Selbst
Das Selfie wird häufig mit Narzissmus und Oberflächlichkeit in Verbindung gebracht. Viele sehen darin sogar eine Gefahr für gesellschaftliche Werte. Die Medienethikerin Claudia Paganini hat diese Urteile und Ängste hinterfragt und kommt zu dem Schluss, dass sie sich nicht bestätigen lassen. Auch der Hype um Selfie und Personenkult sind nicht so neu wie man vermuten mag.
Trotz des großen Erfolges des Selfies, das im Duden als »mit der Digitalkamera (des Smartphones oder Tablets) meist spontan aufgenommenes Selbstporträt einer oder mehrerer Personen« bezeichnet wird, wirkt es für viele, vor allem ältere Menschen, nach wie vor befremdlich. Nicht so für die Medienethikerin Claudia Paganini: »Das Selfie wird häufig mit Narzissmus und Oberflächlichkeit in Verbindung gebracht. Viele sehen darin sogar eine Gefahr für gesellschaftliche Werte. Dabei handelt es sich jedoch meist um emotional aufgeladene Urteile und Ängste, die sich aus medienethischer Sicht nicht bestätigen lassen.« Die Philosophin vom Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck beschäftigt sich in ihrer Forschung vor allem mit Medienethik und in diesem Bereich mit neuen medialen Phänomenen in der Gesellschaft, gerade mit solchen, die für viele zunächst bedrohlich wirken. »Zu Beginn meiner Forschung habe ich mir die Frage gestellt ›sind Personenkult und Selfie überhaupt neue Erscheinungen?‹ Oder sind sie gar Formen von Kulturverfall, wie das, vor allem von Kritikern, häufig dargestellt wird«, begründet Claudia Paganini ihr Forschungsinteresse.
Blickt man zurück in die Geschichte, stellt man fest, dass es bereits in den frühen Hochkulturen und auch in der katholischen Kirche bereits eine Art Inszenierung von Persönlichkeiten gegeben hat. In der Heiligenanrufung der frühen katholischen Kirche wird dies deutlich. Der christliche Heilige war zwar kein Celebrity, diente aufgrund seiner besonderen Nähe zu Gott jedoch ebenfalls als besonders nachahmbar und war unersetzbar. Gleichzeitig blieb er ganz Mensch. Während der Aufklärung traten Heilige immer mehr in den Hintergrund. Ihren Platz nahmen Fürsten ein, bevor Anfang des 20. Jahrhunderts Märtyrer der aufstrebenden Linken wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht und schließlich der Führerkult des Faschismus den Personenkult bestimmten. »Erst in den 1930er Jahren haben sich die Lebensbereiche, aus denen Menschen mit ›Starpotenzial‹ kommen durften, erweitert. Nach Schauspielern reihten sich bald auch Sportlerinnen und Sportler sowie Musikerinnen und Musiker in die Riegen der Stars ein«, erklärt Claudia Paganini. So lange es den Personenkult gibt, so lange gibt es auch seine Gegner und Kritiker.
Das Selfie nimmt einerseits Anleihen bei dieser Tradition der Fremdinszensierung bzw. –verehrung, andererseits kann man es aber auch als moderne Variante des klassischen Selbstporträts verstehen. Das erste bekannte Selbstporträt geht zurück auf das Jahr 1340 v.Chr. und stammt von Bak, Bildhauer am Hof des Pharaos Echnaton. Darauf zu sehen sind der Pharao und seine Frau. Vor allem drei Merkmale zeigen die Gemeinsamkeit von Selfie und Selbstporträt: Beide werden nach Anfertigung archiviert, beide werden öffentlich zur Schau gestellt und beide gelangen in die soziale kollektive Wahrnehmung. Auch die Kritik am Selfie scheint nicht neu zu sein. Die Debatte, dass das Selfie den Narzissmus fördere, gab es im 16. Jahrhundert schon einmal. Damals war der Anlass zur Diskussion selbstverständlich noch nicht das Selfie, sondern ein einfacher Taschenspiegel, der zum Symbol weiblicher Eitelkeit stilisiert wurde.
Claudia Paganini: https://www.uibk.ac.at/philtheol/paganini/
Institut für Christliche Philosophie: https://www.uibk.ac.at/philtheol/index.html.de
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