Filmkritik: »Altered Carbon«: Unsterblichkeit: Was, wenn wir ewig leben könnten?
Der Traum von der Unsterblichkeit ist einer der frühesten, den Menschen je träumten. In der ältesten überlieferten Sage der Welt, dem vor mehr als 3500 Jahren entstandenen Gilgamesch-Epos, sucht der König des sumerischen Uruk verzweifelt nach dem Rezept für die Unsterblichkeit. Nach vielen Abenteuern findet Gilgamesch das Kraut des ewigen Lebens tatsächlich – aber eine Schlange stiehlt es, bevor er es zu sich nehmen kann.
Ying Zheng, der erste Kaiser von China, verfolgte dasselbe Ziel, kam ihm jedoch lange nicht so nah. An Betrüger und Scharlatane, die ihm Mittel zur Überwindung des Todes versprachen, verschwendete er unglaubliche Geldmengen. Vergeblich: Er starb 210 v. Chr., noch vor seinem 50. Geburtstag.
Was nun aber, wenn Gilgamesch und Zheng nicht einfach nur eitel, vermessen und überheblich waren? Vielleicht sind sie lediglich ein wenig zu früh geboren worden. Heute sieht mancher seriöse Forscher die Unsterblichkeit oder zumindest erste Annäherungen daran in greifbare Nähe gerückt. Mit dem Ziel, das menschliche Leben deutlich zu verlängern, hat Google schon 2013 die Firma Calico gegründet. Auch der britische Bioinformatiker und Biogerontologe Aubrey de Grey (siehe einen Beitrag von SciViews-Autor Christian Honey auf »Zeit.de«) ist davon überzeugt, noch vor dem Jahr 2040 das biologische Altern verlangsamen zu können. Sieben Erfolg versprechende Strategien hat er benannt. Ewiges Leben verspricht er zwar nicht, ein Alter von mehr als 1000 Jahren scheint ihm allerdings erreichbar.
In der Netflix-Serie »Altered Carbon« dürften aber am ehesten die Transhumanisten ihre Träume verwirklicht sehen. Manche Vertreter dieser Denkrichtung hoffen, Persönlichkeit, Identität und Erinnerungen von Menschen eines Tages in einen digitalen Speicher laden zu können, wo sie ewig weiterleben können und durch regelmäßige Back-ups zudem vor Zerstörung geschützt sind.
Eindrucksvoll setzt die von der US-amerikanischen Produzentin Laeta Kalogridis konzipierte Serie diese Vision in Szene. An ihren zehn Folgen haben sechs Regisseure und sieben Drehbuchautoren mitgearbeitet, sie basiert auf dem 2002 erschienenen gleichnamigen Roman des britischen Sciencefiction-Autors Richard Morgan. In »Altered Carbon« ist das Bewusstsein der Menschen in einem an die Nervenbündel des Stammhirns angeschlossenen Hightech-Speicher untergebracht. Im Stammhirn konzentrieren sich Nervenzellen, die für die Grundfunktionen des Lebens wichtig sind, wie Atmung oder Temperaturregulation, aber keine Strukturen, die mit der Persönlichkeit eines Individuums in Verbindung stehen. Die Funktion des Körpers reduziert sich darum auf die einer »Hülle«. Deren Tod kann das Bewusstsein überleben, solange nur der Speicher, genannt »Stack«, nicht beschädigt wird.
Das ewige Leben ist in »Altered Carbon« keine Segnung, die jedem zuteilwird. Gute Körperhüllen sind teuer. Die meisten bleiben auf den Körper angewiesen, in dem sie geboren wurden, auch wenn er alt und krank wird. (Der katholischen Kirche ist dies im Film ganz recht: Denn ihr gilt, dass nur die Einheit von Leib und Seele zum ewigen Leben gelangen kann – dass eine Seele den physischen Träger wechselt, ist nicht vorgesehen.)
Immerhin: Mordopfern, die ihre Hülle, nicht aber ihren Stack verloren haben, wird auf Staatskosten ein neuer Körper gewährt. Wer nicht zuzahlen kann, bekommt allerdings nur, was gerade auf Lager ist. Da findet sich das Bewusstsein eines jungen Mädchens schon mal im Körper einer älteren, kranken Frau wieder. Superreiche hingegen leisten sich gleich mehrere Körper, vorzugsweise junge und gesunde. Genau hier setzt auch die Geschichte ein. Der Milliardär Laurens Bancroft wird Opfer eines Attentats, das auch seinen Stack zerstört. Doch davon existiert ein Back-up, gerade einmal vier Stunden alt. Folgerichtig wird es nun in einen neuen Stack übertragen, der wiederum in einen Klon seines Körpers eingesetzt wird. Nur dumm, dass Bancroft die Erinnerung an die entscheidenden letzten vier Stunden fehlt – und er weder weiß, wer ihn »ermordet« hat, noch, ob er weiterhin in Gefahr ist.
Der Stack des einstigen Elitesoldaten Takeshi Kovacs – der für eine Rebellion bestraft und 250 Jahre lang ohne Hülle konserviert wurde – soll es richten: Bancroft lässt ihn in einen kraftvollen jungen Körper übertragen. Gemeinsam mit dem wiederbelebten Krieger, der nun in allen Schichten der Gesellschaft ermittelt, erleben wir Zuschauer, wie die Unsterblichkeit – oder doch zumindest die Option darauf – Arme und Reiche, Verbrecher und Polizisten, Katholiken und Ungläubige verändert.
Sehenswert ist das auf alle Fälle: Die Serie demonstriert eindringlich, wie sehr die reale Aussicht auf Unsterblichkeit die menschliche Gesellschaft deformieren und pervertieren kann. Spekulativ ist es gleichwohl: Empirische Daten zur Wirkung der Unsterblichkeit auf Individuen oder die Gesellschaft existieren nicht. Lebt nicht schon heute deutlich länger, wer mehr Geld und höhere Bildung hat? Gibt es nicht heute schon die Gartenwelten der Superreichen, die in »Altered Carbon« auf der Spitze gigantischer Wolkenkratzer errichtet sind und an Göttersitze wie Asgard oder den Olymp erinnern, während anderswo Hunger und Elend herrschen?
Einige moralische Grenzen könnten aber tatsächlich gesprengt werden. Das (Menschen-)Recht auf körperliche Unversehrtheit beispielsweise hat in »Altered Carbon« seine Bedeutung verloren. Wer Prostituierte quälen und umbringen will, muss ihnen anschließend lediglich eine neue Hülle spendieren. Und der Unterschied zwischen Arm und Reich hat sich von einem relativen hin zu einem absoluten verschoben. Erreicht die Hülle eines Armen das Ende ihrer Haltbarkeit, wird sein Stack auf ungewisse Zeit archiviert. Wer reich ist, lebt dagegen einfach weiter.
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