Evolution: Wer hat an der Uhr gedreht?
Die Botschaft klang so simpel wie überzeugend: Ab Mitte der 1990er Jahre vertraten Paläoanthropologen und Genetiker fast unisono die Out-of-Africa-Theorie, die besagt, dass nicht nur Frühmenschen aus Afrika stammten, sondern auch der moderne Mensch. Untermauern konnten sie ihr Modell mit einem virtuellen Stammbaum, generiert aus Ähnlichkeitsanalysen der genetischen Codes heute lebender Menschen (nachzulesen zum Beispiel in Bruno Streits Herausgeberband: Die Evolution des Menschen, Spektrum Akademischer Verlag 1995).
Damals feierte die Gentechnik ihre Durchbrüche, und jeder orientierte sich an der so genannten molekularen Uhr. Diese funktioniert so: Man untersucht Genome von Menschen, identifiziert die Mutationen, die sie unterscheiden, und kann anhand von deren Zahl ungefähr ermitteln, wann wohl der gemeinsame Vorfahr der Probanden gelebt haben muss. Diese Gen-Uhr kann man dann mit einigen Kunstgriffen immer weiter zurück drehen bis zum "allerersten" gemeinsamen Ahnen. Man muss dazu nur noch die Fossilien den richtigen Zeitabschnitten zuordnen, und fertig ist der Stammbaum.
Doch die Evolution ist kein Schweizer Uhrwerk. Indizien aus der Paläogenetik selbst und archäologische Funde der letzten fünfzehn Jahre zeigen in auffälliger Weise, um wie vieles komplexer die Entwicklung des Menschen ist. Sogar eine der Grundannahmen der Out-of-Africa-Theorie gerät derzeit ins Wanken: Es gab mehr Durchmischungen des Homo sapiens mit früheren Menschenarten als angenommen. Das konnten Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, und sein Team schon vor einigen Jahren nachweisen.
Gleich drei Videos wollen wir hier vorstellen. Das erste stammt von 2014. Damals wurde Pääbo eingeladen, bei der 50. Nobel-Conference in Minnesota eine der Festreden zu halten – eine Einladung, die als große Auszeichnung gilt. Anschaulich und mit Witz resümiert er darin 30 Jahre paläogenetischer Forschung. Auch wenn die Aufzeichnung seiner fünfzigminütigen Rede das längste der drei Videos ist, sei es jedem empfohlen, der sich selbst ein Bild von den Methoden der Genetiker und der Evolution des Menschen machen möchte.
Nicht weniger brisant sind zwei andere Videos, die von der Max-Planck-Gesellschaft selbst produziert wurden: Der Neandertaler in uns und Die rätselhaften Ur-Menschen aus der Denisova-Höhle. Sie berichten über neueste Erkenntnisse zu Vermischungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen sowie von der Entdeckung einer anderen Frühmenschenart, deren Reste in der Denisova-Höhle im sibirischen Altaigebirge gefunden wurden. 2008 siebten Ausgräber dort eine winzige Fingerkuppe aus dem Sediment, zwei Jahre später entdeckten sie einen außergewöhnlich großen Zahn. Aus diesen Überresten konnten die Leipziger Genetiker so charakteristische Codes extrahieren, dass sie eine neue Art postulierten – den Denisova-Menschen.
Im Vergleich mit dem unterhaltsamen Film zum Neandertaler bleibt die Bildsequenz über die Funde von Denisova zwar sachlich trocken, umso mehr Diskussionsstoff bieten jedoch die Resultate: Überraschend häufen sich Frühmenschenfunde in Asien. Schon die homo-erectus-Funde von Dmanissi in Georgien zwangen zum Umdenken. Ab 2004 sorgte der umstrittene homo floresiensis für Wirbel und nun verästelt ein weiterer Frühmensch aus Sibirien den genetischen Stammbaum. Bis vor wenigen Jahren hatte niemand mit seiner Existenz gerechnet, obwohl heutige Australier und Menschen aus Ozeanien genetische Übereinstimmungen mit der Denisova-Sequenz zeigen. Tickt unsere genetische Uhr vielleicht doch nicht so, wie wir das glauben? Es bleibt spannend.
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