Wettbewerb der Sinnesorgane: Wie Cochlea-Implantate in die Hirnentwicklung eingreifen
Im menschlichen Innenohr befindet sich die Hörschnecke, die sogenannte Cochlea. Diese dreidimensionale Spiralstruktur ist mit Flüssigkeit gefüllt, in ihr sitzen zahlreiche Sensoren. Diese Haarzellen genannten Rezeptoren detektieren die Frequenzen der durch die Flüssigkeit laufenden Bewegungsmuster des Schalls. Sind diese Haarzellen in ihrer Funktion gestört oder fehlen gänzlich, dann ist der Mensch schwerhörig oder schlimmstenfalls taub. Feststellbar ist Gehörlosigkeit sofort nach der Geburt über die sogenannte Hirnstammaudiometrie, eine Art Audio-EEG. Das Implantat kann in der Regel schon ab dem sechsten Monat gefahrlos ins Ohr gesetzt werden, denn die Cochlea ist bereits bei Babys vollständig herausgebildet und verändert sich nach der Geburt kaum noch.
Mediziner empfehlen deshalb heute dringend eine möglichst frühe Implantation ab einem Lebensalter von etwa sechs Monaten. Denn die frühkindliche Hörbahnreifung mit dem Sprachverstehen von Lauten kann durch spätere Versorgung nicht mehr völlig nachgeholt werden. Die Neurologie hat zudem vor kurzem nachgewiesen, dass sich das Hirn von gehörlosen Kindern anders entwickelt als das von normal hörenden Babys: Es scheint in den ersten Jahren der Kindesentwicklung eine Konkurrenz der Sinnesorgane um Hirnareale zu geben. Werden den bestimmten Organen zugeordnete Teile des Gehirns also durch nicht funktionsfähige Sinnesorgane unzureichend genutzt, wird dieses brach liegende auditive Hirnareal von anderen Sinnesorganen "übernommen". Das erklärt unter anderem das vielfach beobachtete Phänomen, dass beispielsweise gehörlose Menschen bessere visuelle Fähigkeiten besitzen als normal hörende.
Im Hannoverschen Hörzentrum werden Cochlea-Implantate seit dreißig Jahren implantiert. Das zugehörige Forschungslabor hat die weltweite Entwicklung der Elektroden sowie der Audioprozessoren für die Implantate maßgeblich beeinflusst. Prof. Dr. Anke Lesinksi-Schiedat ist dort Ärztliche Leiterin. Sie plädiert für ein Erziehungskonzept, das die familiären Umstände einbezieht. Kinder gehörloser Eltern erlernen für die Kommunikation mit ihren Eltern die Gebärdensprache als Muttersprache. Sie sollten nach der Versorgung mit einem Cochlea-Implantat sowohl mit der Lautsprache als auch mit ihrer "Muttersprache", der Gebärdensprache, bilingual aufwachsen. Anders sei dies bei hörenden Eltern; hier ist die Gebärdensprache eine in der Familie nicht gelebte, also echte "Fremdsprache". Das Kind sollte hier zuerst die Lautsprache erlernen; das Kind könne dann später immer noch – und ohne Einbußen – die Gebärdensprache nachholen.
Geforscht wird heute an Cochlea-Implantaten, die die jetzt noch außen liegende Batterie ins Implantat verlegen. Weiter gibt es den Trend, die Implantat-Elektroden nicht nur für die elektrische Stimulation, sondern auch für die Abgabe pharmakologischer Substanzen direkt im Innenohr zu nutzen. Ziel ist es, mit solchen Pharmaka das Wachstum von Nervenfasern im Innenohr biochemisch zu stimulieren. Noch sind solche Duo-Implantate nicht marktreif. Experten schätzen, dass das noch einige Jahre dauern wird. Beispielsweise fehlt es an ausgereiften Technologien, wie solche Medikamente im Ohr permanent ausgeschüttet werden können; auch sind die biochemischen Wechselwirkungen zwischen der Innenohr-Flüssigkeit und den Pharmaka noch zu berücksichtigen. Inzwischen zeichnet sich am Horizont ein gänzlich anderer Weg in der Behandlung der Gehörlosigkeit ab: Adulte Stammzellen könnten in zehn bis zwanzig Jahren das Cochlea-Implantat gänzlich überflüssig machen – dann, wenn es gelingen sollte, Haarzellen künftig im Menschen sogar neu wachsen zu lassen.
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