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Wir Werden Alle Sterben: Der Untergang der Kastanien

Scheinbar aus dem Nichts tauchten zwei verheerende Parasiten auf und dezimieren nun Deutschlands schönsten Herbstbaum. Die Rettung der Kastanien ist ein Rennen gegen die Zeit.
Der Untergang der Kastanien

Es gibt wahrscheinlich keinen Baum, der den Herbst so sehr verkörpert wie die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum). Kastanienbäume stehen in nahezu allen Städten zu Hunderten herum und wir haben alle als Kinder die Kastanien gesammelt, Kastanienmännchen gebastelt oder Leute damit beworfen. Doch das könnte bald vorbei sein, denn zwei aggressive Parasiten sind gerade dabei, den Baum in Deutschland nach und nach auszurotten.

Bisher prägen Kastanienbäume in vielen Orten das Stadtbild. Eigentlich kommt die Rosskastanie vom Balkan, ist in den letzten Jahrhunderten aber in Mitteleuropa weithin als Schattenspender in Parks und Biergärten und vielerorts auch als Straßenbaum angepflanzt worden. Doch der Baum kommt mit dem Klimawandel nicht allzu gut klar. Kastanien brauchen einigermaßen feuchte Standorte, deswegen werden die Bäume durch die gerade in den Städten zunehmend warmen und trockenen Sommer geschwächt.

Und geschwächte Bäume sind leichte Opfer für Schädlinge wie die inzwischen berüchtigte Rosskastanienminiermotte. Das ist ein Kleinschmetterling, der erst in den 1980er Jahren auftauchte und sich seither rasant in Europa verbreitet, um bis zu 100 Kilometer im Jahr. Das Tier legt seine Eier auf Kastanienblätter, die Larven schlüpfen, dringen ins Blatt ein und fressen das Gewebe im Inneren. Da die Miniermotten massenhaft auftreten können, verlieren betroffene Bäume schon im Sommer ihre Blätter. Inzwischen ist der Parasit bis nach Schottland und Spanien vorgedrungen.

Das Rätsel der Miniermotte

Rätselhaft war lange, woher die Motte kommt und warum sie erst vor einigen Jahrzehnten auftauchte. Ursprünglich dachte man, die Art käme aus Südostasien und sei erst in den 1980er Jahren mit dem Schiff nach Europa gekommen. Eine andere Vermutung war, dass die Motte ursprünglich andere Pflanzen befiel und erst jüngst auf die Kastanie übersprang. Doch neuere Forschungen zeigen, dass die Motten schon im 19. Jahrhundert in Griechenland auftraten.

Die Motte lebte vermutlich schon lange Zeit in unzugänglichen Gebieten des Balkans mit den dort heimischen Kastanien im Gleichgewicht. Parasiten wie Schlupfwespen halten die Motte dort außerdem in Schach. Doch mit der zunehmenden Mobilität im 20. Jahrhundert wurde die Motte wohl aus ihrer Heimatregion herausgeschleppt. Die Parasiten, die die Population der Miniermotte in ihrer Heimat in Schach halten, sind dabei jedoch nicht mitgekommen. Dadurch kann sie sich nahezu ungehindert verbreiten, zumal sie anscheinend nach wie vor in Autos mitreist.

Allerdings ist die Motte nicht das größte Problem. Sie tötet die Bäume nicht, sondern schwächt sie nur. Dadurch hat es jedoch eine unangenehme Pflanzenkrankheit, die ebenfalls neu aufgetaucht ist, nun noch leichter. Das Bakterium Pseudomonas syringae pv. aesculi gehört zu einer Gruppe von Erregern, die bei sehr vielen Pflanzen Krankheiten verursachen. Seit etwa der Jahrtausendwende breitet sich eine Variante dieser Erreger bei Kastanien in Europa aus und verursacht eine sehr aggressive und tödlich endende Krankheit.

Das Bakterium dringt durch natürliche Öffnungen in Äste, Zweige oder auch die Stämme ein, verursacht da Wunden im Stamm, an denen Pflanzensaft austritt und vor allem breitet es sich schnell und sehr aggressiv in den Gefäßen aus. In der Folge dieser Bakterien gelangen Pilze in den Baum, die die Kastanien von innen verfaulen lassen. Bald besteht die Gefahr, dass Äste abbrechen, und der Baum muss gefällt werden. Dieser Befall ist in Europa, speziell im Nordwesten, sehr stark fortgeschritten. Ein großer Teil der Bäume ist mutmaßlich befallen und überall müssen Gemeinden gefährliche Bäume fällen, die durch den Befall morsch geworden sind.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

In vielen Städten mussten in den letzten Jahren hunderte Kastanien wegen der Infektion gefällt werden, in Hamburg zum Beispiel knapp tausend. Warum dieses Bakterium jetzt plötzlich aufgetaucht ist, woher es tatsächlich kommt und wie es sich von Baum zu Baum ausbreitet, ist noch weitgehend unklar.

Klar ist aber, dass die Miniermotte und Pseudomonas letztendlich nur ein Symptom eines größeren Problems sind. Faktoren wie Ökosystemzerstörung, Klimawandel, aber auch Mobilität – mit Autos, Schiffen und Flugzeugen – tragen dazu bei, dass sich alle Arten von Parasiten und Krankheitserregern aus ihren kleinen ökologischen Nischen heraus bewegen können und sich in neuen Ökosystemen einfinden. Dort vernichten sie ganze Bestände von ihren Opfern und breiten sich manchmal weltweit aus. Das betrifft keineswegs nur Pflanzenkrankheiten. Corona ist auch ein Beispiel für den Effekt, ebenso wie die Schweinepest und die Vogelgrippe. Die Kastanien sind auch ein Teil dieses globalen Musters.

Es gibt natürlich auch gute Nachrichten für die Kastanie, zum Beispiel ist die Miniermotte nicht tödlich, und Besserung ist in Sicht. Erste Trends deuten darauf hin, dass sich bei der Miniermotte langfristig ein Gleichgewicht zwischen Baum, Insekt und dessen Parasiten einstellt. Bei Pseudomonas gibt es inzwischen Ansätze, zumindest in frühen Stadien der Krankheit Bakteriophagen gegen das Bakterium einzusetzen. Es gibt sogar eine spezifische Kastanienvarietät mit gelben Blüten, die gegen die beiden Parasiten resistent ist.

Die Frage ist natürlich, wie weit das den Kastanien hilft. Denn das ganze ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Die beiden Parasiten schwächen und dezimieren die Kastanien in rasantem Ausmaß, tausende mussten schon gefällt werden. Und natürlich schreckt das Problem viele Gemeinden ab, Kastanien als Straßenbaum oder Parkbaum neu anpflanzen. Es besteht die Gefahr, dass die möglichen Lösungen für das Kastanienproblem schlicht zu spät kommen, einfach weil sich Städte und Kommunen anderen Bäumen zuwenden. Es kann also durchaus passieren, dass für zukünftige Generationen der Herbst nicht mehr die Kastanienzeit ist.

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