Der Mathematische Monatskalender: Abu Ali-Hasan Ibn al-Haitham (965–1039): Vater der Optik
Ali al-Hasan Ibn al-Haitham ist in Europa auch unter dem Namen Alhazen (= al-Hasan) bekannt. Er gilt als einer der bedeutendsten Universalgelehrten des islamischen Mittelalters. Al-Haitham verfasste über 200 Werke, in denen er sich mit mathematischen, medizinischen, philosophischen und insbesondere mit physikalischen Fragen beschäftigte.
Es gibt unterschiedliche und sich widersprechende Informationen über die einzelnen Phasen seines Lebens – in einer seiner Schriften, die autobiographische Hinweise enthält, geht er »nur« auf seine Irritationen hinsichtlich der verschiedenen religiösen Lehrmeinungen ein. In seinem Geburtsort Basra (damals Persien, heute Irak) beginnt er eine Beamtenlaufbahn, die ihn bis zum Amt eines Wesirs (Minister) führt. Diese Tätigkeit erfüllt ihn jedoch nicht. Es gelingt ihm, eine gewisse »Unzurechnungsfähigkeit« vorzugaukeln, die ihn von Verwaltungstätigkeiten befreit und ihm die Möglichkeit bietet, sich intensiv mit den Schriften des Aristoteles zu beschäftigen und eigene wissenschaftliche Studien zu beginnen. Er beschäftigt sich mit den Kegelschnitten, dem Problem der Quadratur des Kreises und der Dreiteilung eines Winkels sowie mit der Konstruktion eines regelmäßigen Siebenecks.
Währenddessen errichten die Fatimiden (eine religiöse islamische Bewegung, die sich auf Fatima, die Tochter des Propheten Mohammed, beruft) in Nordafrika ein neues Reich und gründen Kairo als dessen Hauptstadt. Dem zweiten Kalifen der Herrscher-Dynastie, al-Hakim, wird von den Fähigkeiten von al-Haithams berichtet; er lädt ihn ein, nach Ägypten zu kommen, damit er das Nil-Hochwasser reguliere. Al-Haitham nimmt die Einladung des Kalifen an, muss aber nach einer Expedition zu den Katarakten in Assuan erkennen, dass auch ihm nicht gelingen wird, was den alten Ägyptern nicht gelungen war, dass also eine Regulierung des Nils nicht möglich ist.
Al-Hakim ist sehr enttäuscht über diese negative Rückmeldung al-Haithams, bietet ihm dennoch einen Verwaltungsposten an. Al-Haitham bemerkt schnell, wie gefährlich und unberechenbar der Herrscher ist. Erneut greift er zu dem Trick der »geistigen Umnachtung«. Er wird unter Hausarrest gestellt; zwar wird ihm der Zugriff auf sein Vermögen genommen, aber der Trick garantiert ihm die körperliche Unversehrtheit und die beinahe uneingeschränkte Möglichkeit zu forschen. Nach dem Tod al-Hakims im Jahr 1021 kann er endlich wieder – nach seiner wundersamen »Genesung« – ins öffentliche Leben zurückkehren; er erhält sein Vermögen zurück und reist nach Syrien und nach Spanien (zu dieser Zeit unter arabischer Herrschaft). Seinen Lebensunterhalt verdient er sich danach als Lehrer an der Universität in Kairo, aber auch als sachkundiger Übersetzer von mathematischen, physikalischen und medizinischen Texten des Altertums.
Al-Haitham versucht in der Geometrie vergeblich, die Fläche eines Kreises (also die Kreiszahl) dadurch zu bestimmen, dass er Schnittflächen von Kreisen (»Möndchen«) berechnet. Auch betrachtet er ein Viereck mit drei rechten Winkeln und beweist, dass der vierte Winkel weder ein spitzer noch ein stumpfer Winkel sein kann – sein Versuch, das Parallelenaxiom des Euklid zu »beweisen«.
In der Zahlentheorie formuliert er ein Problem: Gesucht ist eine Zahl, die nach Division durch 2, 3, 4, 5 und 6 den Rest 1 lässt, die aber durch 7 teilbar sein soll.
Er erkennt, dass es unendlich viele Lösungen dieses Problems gibt und dass 6! + 1 eine mögliche Lösung ist. Das Problem lässt sich verallgemeinern. Die Aussage »Wenn p eine Primzahl ist, dann ist 1+(p-1)! teilbar durch p.« wird heute oft als Satz von Wilson bezeichnet (nach dem englischen Mathematiker John Wilson, 1741–1793).
Euklid hatte bewiesen: Wenn \(2^{k-1}\) eine Primzahl ist, dann ist \( 2^{k-1} \cdot (2^{k}-1)\) eine vollkommene Zahl. Al-Haitham findet heraus, dass wohl auch die Umkehrung dieses Satzes gilt; erst Euler gelingt der Beweis.
Dass die Summe von aufeinander folgenden Kubikzahlen gleich dem Quadrat der Summe der Zahlen selbst ist, war bereits im 5. Jahrhundert indischen Mathematikern bekannt: \(1^3+2^3+..n^3 = (1+2+..+n)^2 = \left( \frac{n(n+1)}{2}\right)^2\)
Al-Haitham entwickelt sogar eine Formel zur Bestimmung der Summe von aufeinander folgenden vierten Potenzen, um hiermit Volumenberechnungen bei Rotationsparaboloiden vorzunehmen – lange vor der Entwicklung der Integralrechnung!
Al-Haitham multipliziert die Summe der ersten \(n\) Kubikzahlen mit der nächsten Zahl: \((1^3+2^3+..+k^3)(k+1)=1^3 \cdot (1+1+..+1)+2^3 \cdot(2+1+..+1)+\) \(..+(k-1)^3 \cdot((k-1)+1+1)+k^3 \cdot(k+1)\) \(=(1^4+2^4+..+k^4)+1^3+(1^3+2^3)+(1^3+2^3+3^3)+... \) \(+(1^3+2^3+..+k^3)\) und stellt so einen Zusammenhang zwischen der Summe von vierten Potenzen und verschiedenen Summen von dritten Potenzen her. Mit dem gleichen Rechenkniff könnte man auch eine Formel für die Summe von fünften Potenzen und so weiter herleiten.
Sein wichtigster wissenschaftlicher Beitrag ist ein siebenbändiges Werk zur Optik (»Kitab al-Manazir« – Schatz der Optik), das im Jahre 1270 als »Opticae thesaurus Alhazeni« ins Lateinische übersetzt wurde und die Entwicklung der Physik im Abendland maßgeblich beeinflusst. Besonders bemerkenswert ist seine »moderne« wissenschaftliche Vorgehensweise, die sich auf wiederholbare Experimente und nicht auf spekulative Theorien oder subjektive Meinungen stützt; wenn er eine Hypothese aufstellt, so überprüft er sie wiederum durch ein Experiment.
Im »Kitab al-Manazir« findet man u. a. ein Problem, das als Alhazens Problem (auch Alhazens Billard-Problem) in die Literatur eingegangen ist: In einer Kreisfläche sind zwei Punkte \(A\) und \(B\) gegeben. Welche Punkte der Kreislinie kann man mit den beiden Punkten verbinden, sodass die Halbierende des entstehenden Winkels durch den Kreismittelpunkt geht?
(Beschrieben als Problem der Optik: Auf welchen Punkt eines kreisförmigen Spiegels muss ein innerhalb des Kreises stehender Beobachter \(B\) schauen, um das reflektierte Bild eines Gegenstandes \(A\) zu sehen, der ebenfalls innerhalb des Kreises liegt? Als Billard-Problem: Wie muss man eine Kugel \(A\) auf einem kreisförmigen Billardtisch gegen die Bande spielen, damit eine Kugel \(B\) getroffen wird?) – Die gesuchten Punkte auf der Kreislinie (im Allgemeinen existieren vier Lösungen) sind nicht mit Zirkel und Lineal konstruierbar; die algebraische Lösung führt auf eine Gleichung vierten Grades.
Al-Haitham beschreibt in diesem Werk auch den physikalischen Aufbau des Auges, erklärt die Funktionsweise der »camera obscura« (Lochkamera) und stellt fest, dass das Sehen dadurch funktioniert, dass Gegenstände Licht reflektieren (und nicht, dass Strahlen vom Auge ausgehen und so die beobachteten Gegenstände erfassen, wie Ptolemäus und Euklid vermuteten). Er stellt die Reflexionsgesetze auf und beschreibt die Konstruktion der reflektierten Strahlen in ebenen, sphärischen, zylindrischen und parabolischen Flächen. Bei seiner Beschreibung des Phänomens der Lichtbrechung beim Übergang von einem Medium in ein anderes bedient er sich der Vorstellung, dass die (Licht-) Geschwindigkeit im dichteren Medium kleiner ist. Er bestimmt experimentell den Grenzwinkel der Totalreflexion.
Al-Haitham beschreibt die Wirkungsweise gekrümmter Gläser (Linsen). Nach der Übersetzung seines Hauptwerks ins Lateinische werden von Mönchen »Lesesteine« (kugelförmige Glaskörper) entwickelt, den Vorläufern der Lupen und Brillen. Er erklärt, wieso es am Morgen und am Abend eine Dämmerung gibt (Lichtbrechung an der Erdatmosphäre), und schätzt aus dem dabei bestimmten Grenzwinkel von 19° eine »Höhe« der Erdatmosphäre von ungefähr 15 km. Er beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass die Sonne und der Mond in der Nähe des Horizonts größer erscheinen, und beweist durch Messung, dass dies nur eine Täuschung ist. Er führt Experimente durch, um die Dispersion des Sonnenlichts zu untersuchen. Dies alles begründet eindrucksvoll, warum er »Vater der Optik« genannt wird.
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