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Der mathematische Monatskalender: Alfred Pringsheim, Mathematiker und Kunstsammler

Pringsheim war jüdischer Abstammung und großer Wagnerfan: Wegen dieser Verehrung duellierte er sich sogar mit der Pistole.
Viele verschiedene Bilderrahmen
Pringsheim musste seine üppige Kunstsammlung verkaufen, nachdem er im Ersten Weltkrieg sein Vermögen verloren hatte.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

An den Mathematiker Alfred Pringsheim erinnern eine Reihe von Sätzen und Beweisideen zur Analysis komplexer Funktionen sowie zur Theorie der Kettenbrüche. Seine für nachfolgende Generationen vorbildlichen »Vorlesungen über Zahlen- und Funktionenlehre« erschienen in fünf Bänden zwischen 1916 und 1932 und enthalten ausführliche Beiträge zu den Grundlagen und den Anwendungen der Funktionentheorie, zur Konvergenz von unendlichen Reihen, von unendlichen Produkten und von Kettenbrüchen. Obwohl er selbst nicht bei Karl Weierstraß studiert hatte, galt er als einer seiner konsequentesten Nachfolger hinsichtlich der methodischen Strenge in der Beweisführung; auch gelangen ihm entscheidende Vereinfachungen von Beweisen, etwa zum cauchyschen Integralsatz von 1814.

Alfred Pringsheim wurde 1850 als erstes Kind von Rudolf Pringsheim und Paula Deutschmann in Ohlau (heute Oława, Niederschlesien, zirka 35 Kilometer südöstlich von Breslau) geboren. Alfreds Vater hatte als Besitzer eines Kohlebergwerks in Oberschlesien und durch den Kauf und die erfolgreiche Sanierung einer Eisenbahngesellschaft während der Industrialisierung Oberschlesiens ein sehr großes Vermögen erworben.

Nach dem Besuch des Maria-Magdalena-Gymnasiums in Breslau, wo sich Alfreds besondere Begabungen in Mathematik und Musik zeigten, nahm er 1868 ein Studium der Mathematik und der Physik an der Humboldt-Universität Berlin auf; im darauf folgenden Jahr wechselte er an die Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. 1872 promovierte er dort bei Leo Königsberger, einem Schüler von Weierstraß und Ernst Kummer (die damalige Promotionsordnung in Heidelberg sah nicht vor, dass die Kandidaten eine Doktorarbeit vorlegen mussten).

Sein Versuch, an der Universität Bonn zu habilitieren, scheiterte an einer kuriosen Fragestellung: Ein anwesender Prüfer fragte Pringsheim, wie er eine quadratische Gleichung lösen würde, womit der ausgewiesene Experte der komplexen Funktionentheorie nichts anfangen konnte …

Ein großer Wagnerfan

Es war nicht nur dieses Ereignis, das Pringsheim daran zweifeln ließ, ob er seine Laufbahn als Mathematiker fortsetzen oder zur Musik wechseln sollte. Der exzellente Pianist hätte sicherlich auch dort seinen Weg machen können. Begeistert von der Musik Richard Wagners gehörte er zu dessen frühen Anhängern. Er war dank des Vermögens seiner Familie auch einer der Ersten, der sich an der Finanzierung des Festspielhauses in Bayreuth beteiligte (Grundsteinlegung 1874) und von Anfang an die Aufführungen besuchte (erste Aufführung des kompletten »Ring des Nibelungen« 1876). Pringsheims Begeisterung für Wagners Musik ging so weit, dass er sich sogar einem Pistolenduell stellen musste: Er hatte dem Besucher eines Lokals einen Bierkrug an den Kopf geworfen, als dieser sich allzu abfällig über Wagners Musik geäußert hatte – das Pistolenduell ging glücklicherweise unblutig aus, da beide Kontrahenten nicht trafen.

Mit Wagner stand Pringsheim über die Jahre hinweg in engem persönlichen und brieflichen Kontakt. Er transkribierte Auszüge unter anderem aus Wagners »Götterdämmerung« für Klavier. Im privaten Umfeld führte er bis ins hohe Alter immer wieder diese bearbeiteten Stücke auf.

Alfred Pringsheim

1876 besuchte Pringsheim eine Aufführung von »Romeo und Julia« im Theater von Meiningen, verliebte sich auf der Stelle in die 21-jährige Hauptdarstellerin Gertrude Hedwig Anna Dohm und warb um sie. Die Schauspielerin war die Tochter von Marianne Adelaide Hedwig Dohm, einer bekannten Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, und von Ernst Dohm, dem Herausgeber der politisch-satirischen Zeitschrift »Kladderadatsch«.

Pringsheim hatte sich in der Zwischenzeit für eine Karriere in der Mathematik entschieden. Nach erfolgreicher Habilitation in München im Jahr 1877 durfte er als Privatdozent Vorlesungen halten, für die er – wie damals üblich – jedoch kein Gehalt erhielt (nur die Gebühr, die die Hörer seiner Vorlesung bezahlen mussten). Hierauf war er ohnehin wegen des Reichtums seiner Familie nicht angewiesen. Ein Jahr später heiratete er – nachdem er die Genehmigung seiner Universität erhalten hatte – seine angebetete Hedwig.

Aus der glücklichen Ehe von Alfred und Hedwig Pringsheim gingen in kurzen Abständen fünf Kinder hervor, die drei Söhne Erik, Peter und Heinz sowie das Zwillingspärchen Klaus und Katia. Alfreds und Hedwigs Eltern waren jüdischer Herkunft; Alfred bezeichnete sich selbst als mosaisch nicht praktizierend, Hedwig war protestantisch getauft. Das Paar ließ 1885 alle fünf Kinder protestantisch taufen.

Von 1890 an lebte die Familie im – von der Öffentlichkeit so genannten – Palais Pringsheim am Rand des Königsplatzes in München; es war eines der ersten Häuser mit elektrischer Beleuchtung, Telefon und Zentralheizung. Die Empfänge in dem im Renaissancestil errichteten Haus wurden zum gesellschaftlichen Treffpunkt von Musikern, Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern.

Ein großes Erbe

Als 1901 Pringsheims Vater starb, erbte Alfred ein Vermögen von 13 Millionen Mark, die Besitztümer warfen jährlich 800 000 Mark an Dividenden ab. Hiervon erwarb der Kunst- und Musikmäzen Pringsheim wertvolle Kunstwerke – darunter Goldschmiedearbeiten aus dem 15. und 16. Jahrhundert sowie die weltweit wohl größte Sammlung italienischer Majolika (farbig bemalte zinnglasierte Keramik). Der berühmte Maler Franz von Lenbach erhielt den Auftrag, Porträts aller Mitglieder der Familie anzufertigen.

Auch Pringsheims akademische Karriere ging voran: 1886 Ernennung zum außerordentlichen Professor, 1898 zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 1901 bis zur Emeritierung im Jahr 1922 hatte er ein Ordinariat inne; in diesem Zeitraum promovierten bei ihm zwei Studentinnen und elf Studenten – sein berühmtester Schüler Oskar Perron wurde Nachfolger auf seinem Lehrstuhl. (Perron hatte 1902 bei Ferdinand von Lindemann promoviert. Als dieser 1924 emeritiert wurde, trug Pringsheim mit dazu bei, dass Constantin Carathéodory dessen Nachfolger wurde.). Großes Ansehen erwarb Pringsheim nicht nur wegen seiner perfekt ausgearbeiteten Vorlesungen und Vorträge; seine alljährliche »Bierrede« mit geistreichen Wortspielen war der gesellschaftliche Höhepunkt auf dem Kongress der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und auch noch in den Monaten danach Gesprächsthema.

Pringsheims Tochter Katia, die vom siebten Lebensjahr an Privatunterricht erhalten hatte, wurde 1901 als erste Frau in München zur Abiturprüfung zugelassen (nach Ablegen eines Vorexamens) und dann auf Antrag auch zum Studium der Mathematik und Physik. Als im Februar 1904 der durch »Die Buddenbrocks« bekannt gewordene 29-jährige Schriftsteller Thomas Mann sie bei einem Empfang kennen lernte, war dieser von ihr so »verzaubert«, dass er bald um ihre Hand anhielt. Nach einer von Katia erbetenen Bedenkzeit von einem halben Jahr stimmte sie der Heirat zu, im Februar 1905 wurde die Hochzeit gefeiert. Katia setzte ihr Studium bis zur ersten Schwangerschaft fort.

Das Vermögen verloren

Während des Ersten Weltkriegs zeichnete der patriotische Pringsheim den größten Teil seines Barvermögens als Kriegsanleihe, so dass nach Kriegsende und der nachfolgenden Inflation nur wenig übrig blieb. Von da an lebten er und seine Frau von seiner Pension und – wie er zu sagen pflegte – »von der Wand in den Mund«, also aus dem Verkauf von Kunstwerken aus ihren Sammlungen.

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden die Pringsheims genötigt, ihr Haus aufzugeben – ebenso wie ihre Nachbarn. Die neue Regierung ließ alle Häuser der Straße abreißen und Verwaltungsgebäude errichten. In der neuen Wohnung war kein Platz mehr für die wertvolle mathematische Bibliothek; auch diese musste verkauft werden.

Als Alfred Pringsheim 1934 sich weigerte, den Treueeid auf Hitler abzulegen, wurde seine Pension gekürzt. Katia und Thomas Mann, die seit der Machtergreifung im schweizerischen Exil lebten, drängten die Pringsheims, das Land zu verlassen, bevor es zu spät sei; aber diese sahen keine Gefahr – auch nicht, als 1937 ihre Pässe eingezogen wurden. Nach der Reichskristallnacht ein Jahr später konfiszierte die Sturmstaffel die gesamte Gold- und Silberkollektion; das Lenbach-Porträt von Hedwig Pringsheim wurde für das geplante Führer-Museum in Linz beschlagnahmt (in Unkenntnis, dass auch Hedwig jüdischer Abstammung war).

Ab 1939 war Alfred gezwungen, den Zusatz »Israel« dem Vornamen hinzuzufügen. Wer jetzt noch ausreisen wollte, musste eine Reichsfluchtsteuer zahlen; dazu sollte die Majolika-Sammlung bei Sotheby's in London versteigert werden – deutlich unter Wert. Die Ausreise in die Schweiz am 31. Oktober 1939, dem letzten Tag, bevor die Grenze geschlossen wurde, wäre beinahe noch gescheitert, wenn nicht ein SS-Mann in letzter Minute die benötigten Papiere für sie in Berlin abgeholt hätte.

Alfred Pringsheim starb 91-jährig im Züricher Exil, seine Witwe im Jahr darauf.

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