Der Mathematische Monatskalender: Augustus de Morgan (1806–1871)
Augustus de Morgan wird als fünftes Kind von John de Morgan, Oberstleutnant bei der East India Company, in Indien geboren. Zu den Vorfahren seiner Mutter gehört James Dodson, der 1742 eine Tafel mit 11-stelligen Anti-Logarithmen herausgegeben hatte.
Als Augustus sieben Monate alt ist, bringt der Vater seine Familie nach England. Er selbst muss seinen Dienst in Indien fortsetzen, und als er zehn Jahre später endgültig zu seiner Familie zurückkehren will, stirbt er während der Seereise. – Bereits in den ersten Lebensmonaten verliert Augustus das Sehvermögen auf dem rechten Auge, was ihn während seiner Schulzeit von sportlichen Aktivitäten ausschließt und seinen Kameraden oft Gelegenheit zu grausamen Streichen gibt.
Augustus besucht verschiedene Privatschulen im Süden Englands. Im Alter von 16 Jahren wechselt er an das Trinity College in Cambridge; sein Studium schließt er mit dem Bachelor of Arts ab. Obwohl er der Viertbeste seines Jahrgangs ist, strebt er nicht den Abschluss eines Master of Arts an; denn zu einem solchen Abschluss gehört in Cambridge auch ein theologisches Examen, und ein solches lehnt er – obwohl er Mitglied der Kirche von England ist – aus prinzipiellen Gründen ab. (Diese Regelung der Universitäten Cambridge und Oxford wird erst 1875 abgeschafft.)
In London nimmt er vorübergehend ein Jura-Studium auf. Als 1826 die neu gegründete London University (später: University College London) eine Stelle im Fach Mathematik ausschreibt, bewirbt er sich und wird allein aufgrund der Empfehlung seiner ehemaligen Professoren und ohne irgendwelche Veröffentlichungen im Alter von erst 21 Jahren als Professor für Mathematik berufen. Diesen Lehrstuhl hat er mit einer 5-jährigen Unterbrechung bis zum Jahr 1866 inne. (Als nämlich 1831 einer der Hochschullehrer ohne Angabe von Gründen von der Universitätsleitung entlassen wird, demonstriert er seine Missbilligung, indem er von seinem Amt zurücktritt. Seine Lehrtätigkeit am University College nimmt er 1836 wieder auf, nachdem sein Nachfolger bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.)
Anfang des 19. Jahrhunderts leidet die mathematische Forschung in Großbritannien noch immer darunter, dass der inszenierte Prioritätsstreit zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz zu einem Ende der Zusammenarbeit zwischen den Mathematikern auf dem Festland und denen auf den britischen Inseln geführt hatte. Im Unterschied zur Situation in der Analysis haben britische Mathematiker in der Algebra eine Vorreiterrolle übernommen: George Peacock, einer der Lehrer Augustus de Morgans in Cambridge, macht erste Schritte hin zu einer abstrakten Algebra als einer Wissenschaft von Symbolen, die nach bestimmten Regeln miteinander verknüpft werden. Allerdings kann er seinen Kritikern gegenüber als Beispiel einer solchen Algebra nur die übliche Arithmetik ("Buchstabenrechnen") angeben. Untersuchung von Strukturen, in denen beispielsweise das Kommutativgesetz nicht gilt, liegen noch jenseits seines Vorstellungsvermögens.
De Morgan erkennt die Notwendigkeit, parallel zu einer Weiterentwicklung der Algebra vor allem die Gesetze des logischen Schließens zu untersuchen. So beschäftigt er sich intensiv mit der Logik des Aristoteles und setzt sich kritisch mit dessen Syllogistik (Beweis und Schlusslehre) auseinander: Zu einem logischen Schluss gehören zwei Aussagen (Prämissen), aus denen auf eine dritte Aussage (Konklusion) gemäß einem logischen Schema geschlossen wird. Aristoteles unterscheidet dabei Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf den Einzelfall), Induktion (Gewinnung einer allgemeinen Aussage aus Einzelfällen) und Abduktion (Einordnung von Einzelfällen unter eine noch zu entdeckende allgemeine Regel).
Bereits im Jahr 1838 hat de Morgan als Erster eine klare und strenge Definition des Begriffs der mathematischen Induktion angegeben, und zwar in der populärwissenschaftlichen Enzyklopädie Penny Cyclopedia, die von der Society for the Diffusion of Useful Knowledge (Gesellschaft für die Verbreitung von nützlichem Wissen) herausgegeben wird. Im Laufe der Jahre verfasst er für die Gesellschaft insgesamt 712 Artikel zu diesem Werk, etwa ein Sechstel aller Beiträge der Enzyklopädie.
De Morgan entwickelt vor allem die Prädikatenlogik weiter und erfindet hierfür eine eigene Notation. Die von Aristoteles verwendeten Bezeichnungen A: "Alle \(X\) sind \(Y\)s" ersetzt er durch "\(X)Y\)", E: "Kein \(X\) ist ein \(Y\)" durch "\(X.Y\)", I: "Einige \(X\) sind \(Y\)s" durch "\(XY\)", O: "Einige \(X\) sind keine \(Y\)s" durch "\(X:Y\)", sodass der Aristotelische Syllogismus aus "Alle \(X\) sind \(Y\)s" und "Alle \(Y\) sind \(Z\)s" folgt: "Alle \(X\) sind \(Z\)s" notiert werden kann als "\(X)Y + Y)Z = X)Z\)" und so weiter.
1847 veröffentlicht de Morgan Formal Logic: or, The Calculus of Inference, Necessary and Probable, in denen unter anderem auch die Gesetzmäßigkeiten für die Negation von verknüpften Aussagen enthalten sind. Diese Regeln werden heute als de Morgan'sche Gesetze bezeichnet (bereits Wilhelm von Ockham (1288 – 1347) hatte sie formuliert, aber sie gerieten in Vergessenheit).
In der mathematischen Aussagenlogik werden die Gesetze heute in der Form \( \neg (a \vee b) = (\neg a) \wedge (\neg b)\) und \( \neg(a \wedge b) = (\neg a) \vee (\neg b)\), in der Mengenlehre als \( \overline{A\cup B} = \bar{A} \cap \bar{B}\) und \( \overline{A\cap B}= \bar{A} \cup \bar{B}\) notiert.
Offenbar ist die Zeit reif für die Entwicklung einer formalen Sprache: Ebenfalls 1847 erscheint George Booles epochales Werk The Mathematical Analysis of Logic; im Vorwort dankt er de Morgan ausdrücklich für dessen vielfältige Anregungen.
In seinen Vorlesungen und in zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen (darunter die Bücher: Elements of Trigonometry, The Elements of Algebra, The Elements of Arithmetic, The Differential and Integral Calculus) bemüht sich de Morgan um präzisere Formulierungen und exaktere Argumentationsführungen, als dies bis dahin üblich ist.
In den Cambridge Philosophical Transactions veröffentlicht er mehrere Beiträge zu den Grundlagen der Algebra. William Rowan Hamilton hatte 1832 entdeckt, dass komplexe Zahlen als Zahlenpaare aufgefasst werden können; 1843 findet er die Gesetzmäßigkeiten einer Verknüpfung von vierdimensionalen Objekten, der Quaternionen. In seinen Lectures on Quaternions (1853) gibt der irische Mathematiker mehrfach an, dass die Veröffentlichungen de Morgans ihn zu seinen Untersuchungen ermutigt haben.
1849 erscheint de Morgans Trigonometry and Double Algebra. Im ersten Teil des Buches geht es um trigonometrische Funktionen, auch im Komplexen, erst zuletzt um geometrische Berechnungen. Im zweiten Teil des Buches reflektiert er über die in der Algebra verwendeten Symbole und Regeln. Diese single algebra beschäftigt sich mit der Verknüpfung der Symbole – egal, welche Bedeutung diese haben. Das Lösen von quadratischen Gleichungen kann auf Terme der Form \(a + b \sqrt{− 1}\) führen, die als zweidimensionale Objekte interpretiert werden; die Operationen mit diesen bezeichnet er als double algebra. Nachdem es Hamilton gelungen ist, eine quadruple algebra zu finden, hat de Morgan immer noch die Hoffnung, selbst eine triple algebra zu entwickeln, ein dreidimensionales System von Objekten mit einer geeigneten Verknüpfung.
1866 gründet er zusammen mit seinem Sohn George und anderen Unterstützern die London Mathematical Society und wird erster Präsident der Gesellschaft; im Unterschied zur Royal Society, deren Mitgliedschaft er zeitlebens ablehnt, soll hier ein Diskussionsforum für neue Ideen geschaffen werden. Als kurze Zeit danach ein Lehrstuhl für Philosophie am University College frei wird und der fähigste Bewerber vom Universitätsrat wegen dessen Zugehörigkeit zur Kirche der Unitarier abgelehnt wird, protestiert de Morgan gegen diesen Verstoß gegen das Prinzip der religiösen Neutralität der Hochschule und tritt von seinem Amt zurück – diesmal endgültig.
Seine sieben Kinder sorgen dafür, dass er genug zum Leben hat; aber als erst sein Sohn George, in den er alle Hoffnung hinsichtlich dessen Karriere als Mathematiker gesetzt hat, und dann auch eine der Töchter stirbt, verliert er seinen Lebenswillen. Fünf Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Hochschuldienst stirbt er, wie es heißt, an einem Nervenleiden. Seine Frau veröffentlicht posthum noch die Schrift Budget of Paradoxes, eine Zusammenstellung von Kommentaren zu Büchern und Schriften, die er mit Fleiß gesammelt hat: über Kreisquadrierer, Winkeldreiteiler, Würfelverdoppler, Konstrukteure eines Perpetuum mobile, Erfindungen, welche die Gravitation aufheben oder die Erdrotation anhalten und viele mehr.
Zeit seines Lebens liebte de Morgan Zahlenspiele. Bezüglich seines Alters pflegte er auf die Tatsache zu verweisen, dass er sich von vielen Menschen dadurch unterscheide, dass er im Jahr \(x^2\) seinen \(x\)-ten Geburtstag feiern konnte (\(x = 43\); \(x^2 = 1849\)).
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